Denkfehler

5. April 2013

Leider habe ich einen kleinen Fehler gemacht, indem ich meine Bereitschaft erkennen ließ, mich von ihm belehren zu lassen – der erste Vortrag folgt auf dem Fuße. Dabei lerne ich dann wenigstens, die SPD ist derzeit noch die führende Partei im Stadtstaate. Nicht dass man heutzutage einen großen Unterschied bemerken könnte zwischen Konservativen und Sozialdemokraten; außer vielleicht dass die Konservativen mehr von der Wirtschaft verstehen. Manchmal täte ein wenig Konservativismus der SPD auch nicht schlecht. Ein Besinnen auf die alten Werte, meine ich. Aber warum für die sorgen, die einen mit hochgetragen haben – dazu will man doch nach oben, damit man möglichst viele andere treten kann. Macht korrumpiert, oder so ähnlich. Na, das Problem wird bald gegessen sein; Lahning befürchtet einen klaren Machtwechsel bei den nächsten Kommunalwahlen in zwei Jahren. Was wird dann eigentlich aus ihm? Schade, das kann ich ihn schlecht fragen.

„Es liegt ja soviel im Argen,“ doziert er und wendet sich ein wenig von mir ab, da er inzwischen in der Runde weitere Zuhörer gewonnen hat. „Jeder erwartet auf einmal, dass die Gemeinden das Problem mit der Arbeitslosigkeit lösen. Der immense Verwaltungsaufwand lässt sich kaum bewältigen, und nicht eine Kraft mehr bekommen wir dafür bewilligt. Wie soll denn das gehen? Überall brechen die Einnahmen ein, die Ausgaben werden erhöht, die Mitarbeiter fehlen, und jede Stadt muss selbst sehen, wie sie irgendwie durchkommt.“

Ich blende den Singsang aus und sehe mich um. Überall wird eifrig geschwatzt und gelacht. Mein Nachbar flirtet mit seiner Nachbarin, die mir, zugegeben, auch ganz ausgesprochen gut gefällt. Der tiefe Ausschnitt vorne und hinten wirkt in meinen Augen zwar etwas ordinär; aber erstens mögen das ja angeblich die Männer, und zweitens ist sie jung genug, damit durchzugehen.

Deinar kann ich leider nicht erblicken; dazu müsste ich mich vollständig umdrehen, und dann würde wahrscheinlich selbst Lahning meine fehlende Aufmerksamkeit für seinen überaus interessanten Vortrag kaum mehr übersehen können.

Mondheim unterhält den gesamten Tisch, an dem er sitzt, mit irgendwelchen Anekdoten; zumindest lacht alles von pflichtschuldig bis freigiebig. Und raten Sie mal, wer neben ihm sitzt – genau, seine holde Angetraute. Na, so wenig, wie die beiden ein Paar sind, muss man sie ja auch beim Essen nicht trennen.

Etliche sind bereits für einen Nachschlag unterwegs. Schlecht ist das Essen wirklich nicht. Hätte ich denselben Kram allein zu Hause in meiner Wohnung, ich wäre begeistert. Dass man auch die Getränke selbst holen muss, ist gefährlich; es verführt dazu, weit mehr zu trinken, als wenn man vorher immer erst jemanden zum Nachschenken antickern müsste. Dann stehen die Flaschen auch noch direkt auf den Tischen. Am liebsten hätte ich ja eine Weißweinschorle, aber die ist für die Umgebung wohl nicht vornehm genug. Jedenfalls sehe ich niemanden, der Wein und Wasser mischt, wenngleich einige doch Wasser trinken. Ach was, jetzt reicht es mir. Ich habe schon ein halbes Glas Sekt (die andere Hälfte war schal, und so habe ich das Glas geschickt irgendwo entsorgt) und ein Glas Weißwein intus, das reicht. Klar könnte ich auch Wasser pur trinken, aber es ist alles schlimm genug auch ohne diese Zurückhaltung. Ein paar Blicke treffen mich, als ich mir meine Mischung herstelle aus einem Fingerhut Wein und viel Wasser. „Sie vertragen wohl nicht viel?“ fragt mich ein alternder Brummbär von schräg gegenüber. Ich glaube, das ist der Obstmüller, aber ich bin mir nicht sicher. „Ich vertrage schon mehr – aber ob Sie mich dann noch vertragen, das weiß ich nicht,“ gebe ich zurück und werde mit einem Lachen belohnt.

Und wo bleibt jetzt der Nachtisch? Noch fast eine halbe Stunde Geduld wird mir abverlangt bis zur Ziellinie. Beinahe hätte ich ohne jeden Hunger nochmals meinen Teller gefüllt, nur um etwas zu tun zu haben mit meinen Händen. Meine Klappe ist zwar ab und zu gefragt (wobei, komisch – die meisten fragen als erstes, was ich denn mache – soll ich mir vielleicht ein Schild umhängen?), aber langweilig ist es trotzdem.

Endlich brechen irgendwelche Bedienstete in geordnetem Chaos ein, entfernen Teller, restliches Essen, und eine zweite Schar holt den Süßkram und den Kaffee. Runde zwei ist überstanden. Ob das Hineinschlingen von Pudding, Kuchen, Obst, Käse, Likör oder was auch immer das in den vielen Flaschen ist und Kaffee in jeder Form auch solange dauert wie das Hauptessen vorher? Hoffentlich nicht. Ich werde jedenfalls nicht für eine Verzögerung sorgen. Ein Capuccino – beim Nachtisch wird endlich auch bedient, ich muss mir Sahne und Kakao also nicht einmal selbst aufträufeln -, und das reicht. An der Tasse gedenke ich mich festzuhalten, bis ich von meinem Platz erlöst werde.

Jemand verteilt Aschenbecher, und innerhalb kürzester Zeit ist der blaue Dunst in der Luft aus Qualm statt aus Worten.

Rasch und beglückt stelle ich fest, die starren Formationen lösen sich auf. Die ersten verlassen ihren Platz, setzen sich ganz frech woanders hin. Ganz ohne Genehmigung durch Mondheim female.

Na, ob ich da vielleicht auch … Noch ehe ich mich umsehen kann, ob bei Deinar etwas frei ist, ist er schon längst da und greift sich den freigewordenen Stuhl meines linken Nachbarn, der mit der halbnackten Dame das Weite für etwas mehr Intimität gesucht hat.

Ich freue mich so sehr darüber, ich muss an mich halten, um nicht irgendetwas zu tun, das zumindest in dieser Umgebung doch äußerst unpassend wäre. „Darf ich?“ fragt er und packt seine Zigaretten aus. „Und was ist, wenn ich nein sage?“ provoziere ich ihn. „Dann werde ich mich entweder brav deinem Wunsch fügen – oder dafür sorgen, dass dein Benehmen sich verbessert,“ erklärt er. Er redet genauso, wie ich mich fühle – absolut übermütig. Wer von uns beiden hat eigentlich Alkohol getrunken? Und was ist dann ihm zu Kopf gestiegen?

Einer von uns muss sich bremsen, sonst kann ich mir in etwa vorstellen, wie dieser Abend enden wird.

***

Es ist eine ungeheure Erleichterung, wieder Deinar als Gesprächspartner zu haben. Alles andere an diesem Abend ist so schrecklich künstlich. Selbst wenn Gefühle gezeigt werden, sind es welche, die man sich als Pflicht abverlangt oder die mangelnder Selbstbeherrschung entspringen, wie bei mir. Aber es ist nichts echt. Nicht die Gespräche, nicht das Verhalten den anderen gegenüber. Nicht einmal das Essen erledigt man so, wie man es tun würde, wäre man allein und ungehemmt.

Natürlich steckt Deinar sich doch gleich einen Glimmstängel an. „Du legst es wohl unbedingt auf eine Strafe an,“ flüstere ich. Er beugt sich zu mir herüber. „Das könnte sein. Wir müssen uns nur noch die richtige Strafe für dich ausdenken.“

Aha – wir spielen also das Spiel, wer von uns beiden ist hier der Top. Rein rational betrachtet liegt die Lösung auf der Hand – wir sind es beide abwechselnd. Ich glaube allerdings kaum, dass ich dem gewachsen bin. Mit der devoten Rolle habe ich mich kaum beschäftigt. Es widerstrebt mir einfach, mich einem Männlein zu unterwerfen, das nichts besser und geschickter und schöner und intelligenter ist als ich, ganz einfach nur, um seine Hormone zufrieden zu stellen. In der Theorie, wirklich nur in der Theorie, könnte ich mir eine solche Hingabe ohne weiteres gegenüber einem Menschen vorstellen, der mir tatsächlich hoffnungslos überlegen ist. Nur dass einer das eine oder andere besser kann als ich reicht dafür jedoch nicht aus. Allein der ideale Traumprinz hätte keine Schwierigkeiten, mich in die Position der Sub zu bringen.

Das Problem ist nur: Den gibt es nicht. Alle anderen Männer sind einfach nur das, Männer. Menschen wie ich, die sich ganz offensichtlich hauptsächlich durch einen kleinen Fleischsack zwischen den Beinen von mir unterscheiden. In allem anderen sind wir weitgehend ebenbürtig, wenn auch unterschiedlich. Und so ein kleiner Schwanz kann’s ja wohl nun wirklich nicht sein, vor dem ich mein Haupt beugen soll.

Eine andere Möglichkeit wäre ein Spiel, bei dem unzweifelhaft feststeht, man ist einander gleichberechtigter Partner, und die Machtverhältnisse ändern sich allein erotisch betrachtet für eine bestimmte Zeit. Nur, das ist ja wohl auch nicht der Stein der Weisen. SM ist auch ein Spiel, aber eben doch kein Spiel. Es ist nichts, wo man einen Einsatz nur erbringt, um dafür desto mehr als Gewinn dafür einzustecken. Und es ist auch kein Theaterstück für die Alltagspause Sex, sondern es ist echt und direkt und unmittelbar und erfasst das gesamte Wesen.

Wie soll das also gehen, dass ich den Befehlen eines anderen gehorche, mich ihm unterordne?

Denkfehler, Mylady. Sieht es denn für mein Gegenüber anders aus? Ich bin Deinar auch nicht automatisch überlegen und erwarte trotzdem, in der erotischen Rangordnung über ihm zu stehen. Dabei gelten für ihn dieselben Regeln wie für mich. Folglich wäre jede Hingabe eigentlich in jeder Richtung absolut ausgeschlossen.

Treffer, versenkt; meine ganze nette Argumentation, warum die Subrolle für mich nicht in Frage kommt. Da muss ich mir etwas anderes einfallen lassen. Bin gespannt auf das Ergebnis. Vielleicht kann man sich diesen Mysterien aber auch gar nicht mit dem Verstand nähern.

Wobei mir auffällt, mit welcher Selbstverständlichkeit Deinar in den Brennpunkt meines Interesses gerückt ist. War da nicht irgendetwas von wegen nur gute Freunde und so? War ich nicht diejenige, die festgestellt hatte, dass sie lediglich die unerreichbaren, kalten Männer reizvoll findet und die anderen, mit denen man reden und lachen und zusammensein kann langweilig?

Keine Ahnung, ob es der Alkohol ist, die wachsende Vertrautheit einer Freundschaft, in die beide ohne Vorbehalte hineingehen, oder was auch immer – von Langeweile kann bei Deinar keine Rede sein. Das widerspricht total meiner bisherigen Lebenserfahrung. Na, man wird sehen, wer letztendlich recht behält; meine Lebenserfahrung – oder meine aktuelle Intuition.

„Woran denkst du denn dabei?“ setze ich das Gespräch fort – welch ein Glück, dass man weit schneller denken als schreiben kann; die Zeit, die man für eine so wichtige Erkenntnis braucht wie meine von gerade eben sorgt allenfalls für eine minimale Unterbrechung einer laufenden Diskussion. „Du hast aber nicht vor, dass ich mir jetzt auf dem Klo den Slip ausziehen soll und ihn der Mondheim in die Handtasche mogeln, oder?“ Deinar grinst breit. „Nein, viel zu gewöhnlich. Wenn überhaupt, müsstest du das Teil entweder ihm in die Brusttasche stopfen oder Lange in den Hosenbund. Aber wir wollen ja keinen Skandal, sondern eine kleine Herausforderung für dich. Wie wäre es denn damit, dass du an der kleinen Vorführung teilnimmst, die ich erwähnt habe?“

Die Hintertücke stinkt zum Himmel. Schlagartig wird mir klar, warum Mondheim Deinar unbedingt gleich nach seinem Eintreffen entführen musste – die beiden haben ihre Geschütze in Stellung gebracht. Und treffen sollen die mich. Das ist eine abgekartete Sache, dafür braucht es keinen Hercule Poirot, um das festzustellen.

Die Enttäuschung ist wie ein Schlag in die Magengrube. Es geht nicht um einen kleinen intimen Wettbewerb zwischen Deinar und mir – sondern Deinar und Mondheim haben sich etwas ausgedacht, um mich aufs Glatteis zu führen. Die Verschwörung findet mit anderen Mitspielern statt als ich dachte. Es ist nicht so, dass Deinar mit in meiner Welt ist und mit mir gegen die leichte Feindseligkeit der anderen kämpft. Nein, er ist im anderen Lager, und ich habe es nicht einmal gemerkt bis jetzt. Umso schlimmer.

„Was darf es denn sein? Ein kleiner Striptease? Eine Erotik-Show?“ Meine Stimme klingt bitter. Ein Gutes hat diese Entwicklung allerdings – die ungeheure Attraktion von Deinar ist ebenso plötzlich verschwunden, wie die paar Promille sie im Laufe des Abends herbeigezaubert haben.

„Anne, bitte – was ist denn los? Natürlich nicht! Es ist keine Show, es ist ganz seriöse Kunst. Es gibt nur ein Problem. Mondheim hat eine kleine Gruppe bestellt, die eine Art Lesung mit Hintergrundprogramm liefern soll. Einer liest, und dazu gibt es Musik, ein Schattenspiel und Lichteffekte. Nur – die Vorleserin liegt mit Mandelentzündung im Bett, und der Ersatz ist anderweitig ausgebucht. Mondheim wollte von mir wissen, ob er das Ganze einfach sein lässt, oder was er sonst machen kann. Ich habe ihm vorgeschlagen, einfach dich vorlesen zu lassen. Du hast eine wunderschöne Stimme, du sprichst klar und deutlich, und schöner als du kann die kranke Dame sich auch nicht ausmachen dabei.“

Nun versucht er also, mich mit Schmeichelei zu überreden. Gemeinerweise stimmen seine Worte mich tatsächlich ein wenig versöhnlich. Aber nur ein wenig. „Wie soll denn das gehen?“ wende ich ein. „Ich habe doch keine Ahnung, was gelesen werden soll, und bei einem unbekannten Text werde ich über Stottern kaum herauskommen.“

„Deshalb bin ich ja hier, um dich vorzuwarnen. Außerdem, den Text kennst du bestimmt – der kleine Prinz? Ich müsste mich sehr täuschen, wenn das nicht auch eines deiner Lieblingsbücher wäre.“ Gut geraten, mein großer Prinz; in der Tat, natürlich mag ich das Buch, und natürlich habe ich es oft genug verschlungen, um mir notfalls eine kleine öffentliche Lesung vorstellen zu können. Trotzdem – irgendwie komme ich mir überrumpelt vor. Warum hat Deinar mir das nicht vorher gesagt? Nicht, dass es eine gute Gelegenheit dazu gegeben hätte bislang.

Noch bin ich nicht besiegt. „Das habt ihr euch ja schön ausgedacht!“ „Nicht wir – ich habe mir das ausgedacht,“ widerspricht Deinar. „Mondheim wollte dir das nicht zumuten, aber ich habe darauf bestanden, dich wenigstens zu fragen. Selbstverständlich kannst du ablehnen – das ist nicht das geringste Problem. Ich sage ihm das, die Vorführung fällt ins Wasser, und Ende der Diskussion. Nur, warum willst du ihm den Gefallen nicht tun? Er wird bestimmt eine Möglichkeit finden, dich dafür zu entschädigen. Außerdem könntest du so den ganzen Hohlköpfen hier zeigen, was in dir steckt.“

„Zumindest werde ich auffallen – und sei es nur durch die meisten Versprecher innerhalb einer halben Stunde,“ murre ich. „Anscheinend habe ich mehr Zutrauen in deine Fähigkeiten als du selbst,“ erwidert Deinar. „Ich denke, du wirst das ganz hervorragend machen.“

Ich sehe schon, das Netz zieht sich zu. Wie soll ich da noch wieder herauskommen? Sage ich nein, bin ich ein Spielverderber. Ist ja schließlich ein ganz harmloser Wunsch nach einem kleinen Gefallen für Mondheim, den Deinar geäußert hat. Oder etwa nicht? Nun, das Gegenteil beweisen kann ich nicht – und in dubio pro reo.

Deinar streicht mit den Fingerspitzen über meinen Unterarm. Was für ein Glück, dass der Bolero keine langen Ärmel hat; oder sollte ich das lieber bedauern? „Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du es tun könntest.“

Ob er mit Mondheim gewettet hat, mich herumkriegen zu können? Ach, Blödsinn. Ich werde langsam schon paranoid. Das kann ich mir nicht durchgehen lassen. „In Ordnung – aber das wird dich etwas kosten.“ Deinar lächelt. „Wenn du den Preis bestimmst, zahle ich ihn gerne.“ Ziemlich leichtsinnig, der Knabe. Er weiß ja nicht, was ich verlange. Ich weiß es auch noch nicht, aber mir wird bestimmt etwas einfallen. „Kann ich den Text wenigstens vorher haben, damit ich mich einlesen kann?“

Deinar nickt und steht auf. „Komm mit – ich habe Mondheim extra alles bereitlegen lassen in seinem Arbeitszimmer oben. Da bist du ganz ungestört.“ „Ach – du hast also fest damit gerechnet, dass ich mitmache?“ Sein Protest klingt ehrlich. Nun ja, will ich es ihm einmal glauben. Für jetzt. Momentan habe ich ohnehin anderes zu tun. Das Lampenfieber kriecht bereits von meinen Zehen in den Adern mit dem verbrauchten Blut hoch, ist schon auf den ersten Treppenstufen nach oben – aus Marmor natürlich – im Brustkorb angekommen und droht, darin eine kleine Rebellion zu veranstalten.

Nicht dass ich nicht schon das eine oder andere Mal vor Publikum gelesen hätte; und zwar längst nicht nur in der Schule. Jeder Autor hat doch so seine kleinen Vorlesestunden im trauten Kreis, nicht wahr? Und bevor ich beim Magazin gearbeitet habe, war ich bei einer Firma, die versuchte, mit einer Loseblattsammlung juristische Ratschläge ihren Lesern alltagstauglich nahe zu bringen. In meinen Augen ging damit die notwendige rechtliche Exaktheit verloren, ohne dass man das Zeugs damit leichter hätte verstehen können, aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls, diese Firma veranstaltete regelmäßig Vortragsreihen. Nachdem man uns Autoren nicht zutraute, den Inhalt dessen zu verstehen, von dem man von uns verlangte, ihn anschaulich darzustellen, hätten solche Vorträge im Zweifel daraus bestanden, etwas vorzulesen, was jeder ohnehin nachlesen konnte. Wenn ich an der Reihe war, habe ich zwar immer versucht, wenigstens einen Teil frei zu sprechen, aber ein bisschen Vorlesen war dennoch immer dabei. Und bei dem Publikum hatte ich es nicht mit leicht alkoholisierten, eigentlich durchweg freundlichen Gästen einer Party zu tun, sondern meistens mit äußerst kritischen Nörgelpötten, denen nichts recht war, außer sie bekamen eben das: Das, was sie ihr Recht nannten. Und mit Recht meine ich hundert Prozent. Kam das so nicht hin, war das Recht nicht recht, und jeder, der anderes behauptete, war ein Dummkopf. Da kann ich hier sicherlich mit mehr Akzeptanz rechnen. Vor allem sind es weit weniger Leute als damals, wo teilweise mehrere Hundert zusammenkamen, um mich nach einem solchen Vortrag auseinander zu nehmen.

Mondheims Arbeitszimmer ist wenigstens gemütlich; es sieht weniger nach Arbeit aus, als vielmehr nach Entspannung. Nicht dass ich viel wahrnehmen könnte in meiner Nervosität. Na, ein paar Dinge doch. Auf dem kleinen Tischchen neben einem braunen Ledersessel stehen und liegen bereits eine Flasche Wasser, ein Glas und etliche Blätter Papier. Eine Leselampe strahlt genau auf die Sitzfläche des Sessels. Wenn ich die Blätter exakt dorthin halte – oder wahlweise die Lampe verstelle – müsste mir das genügend Licht fürs Lesen verschaffen. Ansonsten ist der Raum recht wenig beleuchtet. Es berührt mich, wie gedankenvoll da jemand vorgesorgt hat; das hätte ich Mondheim gar nicht zugetraut.

„Ich hole dich nachher rechtzeitig ab,“ erklärt Deinar. Und schon bin ich allein mit einem Text und einer Aufgabe, die meinen Pulsschlag schon jetzt verdoppelt. Ich liebe solche Herausforderungen. Sie machen die Zeit danach erst richtig zum Genuss.

Zuerst einmal versuche ich, meine flatternden Nerven mit ein paar netten Sprüchen zu beruhigen. Das wird schon schief gehen, ist ja nicht lange, ich kann das bestimmt, und nachher kann Deinar was erleben.

Dann vertiefe ich mich in die Erzählung, die mich noch immer ganz merkwürdig zart und melancholisch mitnimmt, obwohl ich mich schon so oft damit befasst habe. Erstaunlicherweise stelle ich fest, einzelne Stellen kann ich beinahe auswendig.

Was ich vor mir habe, ist natürlich nicht das ganze Buch; bis morgen früh wollte ich die Gäste auch nicht unterhalten, und ich hatte mich schon ängstlich gefragt, wie schnell ich lesen muss, um wenigstens kurz nach Mitternacht durch zu sein. Die Kurzfassung ist sehr gelungen, das muss ich sagen; sie hat eine ähnlich schwermütige Wirkung wie die vollständige Erzählung, und das ist ein bemerkenswertes Kunststück. Wer auch immer das geschrieben hat, er versteht sein Handwerk.

Ein Problem gibt es, an das ich noch nicht gedacht habe. Wenn die Lichteffekte, die Musik und das Schattenspiel zum Leserhythmus passen sollen, wäre eigentlich noch eine Art Absprache und Generalprobe fällig. Nein, das nicht auch noch. Da werde ich mich weigern. Wenn ich der Truppe schon aus der Patsche helfe, sollen sie gefälligst sehen, wie sie mit meiner Art zu lesen fertig werden. Jedes Mal die gleiche Geschwindigkeit wird auch die Mandelkranke bestimmt nicht hinkriegen, da ist eine gute Portion Anpassung ohnehin gefragt.

Zweimal schaffe ich es, den Stapel durchzugehen, bevor Deinar wiederkommt. Die Ruhe hier oben hat zwar meine Beklemmung nicht beseitigt – Vorangst könnte man das wohl nennen, im Gegensatz zur so genannten Vorfreude -, aber ich bin dafür richtig in der Stimmung der liebevollen Geschichte drin und somit wie durch eine Wattewand von der Furcht getrennt.

Deinar führt mich wieder zurück nach unten, aber in einen anderen Raum als vorhin, einen kleineren. Welchem Zweck auch immer er dienen mag, er ist hässlich. Neon, Chrom, unbequeme Möbel und geschmacklose Bilder. Vielleicht ist es der Vorzeigeraum für unliebsame Besucher. Oder das Zimmer, in dem die Bediensteten sich stilvoll ausruhen dürfen. Hier warten ein paar Menschen auf mich, die mich geradezu herzlich begrüßen. Ich halte ihren Dank ja für ein wenig voreilig; noch wissen sie gar nicht, ob ich ihnen nicht ihre ganze Aufführung zerstöre. Es gibt einige Anweisungen, von denen ich nur hoffen kann, wenigstens die wichtigsten zu behalten. Nach jedem Kapitel soll ich eine kleine Pause mache. Das Schattenspiel werde ich ebenso wenig sehen können wie die Lichteffekte, denn beides wird schräg hinter mir stattfinden. Außergewöhnlich praktisch – dann kann von mir auch keiner verlangen, mich darauf einzustellen. Dafür ist eine Frau, die dem Aussehen nach gerade höchstens 18 geworden sein kann, für die Koordinierung zuständig. Sie wird mir notfalls ein Zeichen geben, schneller oder langsamer zu werden. Eine gute Idee, so grundsätzlich; wie ich allerdings ein solches Zeichen bemerken soll, wo ich mich auf meinen Text konzentrieren muss, ist mir schleierhaft.

Viel zu schnell ist es soweit; Mondheim persönlich führt uns in eine Ecke des Raumes, in dem vorhin noch Tische gestanden haben. Jetzt finden sich dort nur noch Stuhlreihen und Gesichter in der Dunkelheit. Der gesamte Bereich vor mir liegt im Dämmerlicht; hell ist es eigentlich nur über einem Stuhl, der da mitten mutterseelenallein in mehreren freien Quadratmetern steht, umgeben von Leinwänden, diversen Lampen, Dutzenden von Kabeln und was weiß ich noch alles.

Mondheim drückt mir ermutigend die Hand und entfleucht zu den anderen. Die Mitglieder der Truppe huschen und hasten um mich herum. Jeder hat noch etwas zu tun; nur mir bleibt nichts anderes übrig als mich auf dem Stuhl als Statue zur Schau zu stellen. Vor mir ist es bereits totenstill, dann endet auch das Flüstern um mich herum, und die Koordinatorin zählt von fünf rückwärts. Und los.

Schon bald vergesse ich alles, was um mich ist, vertiefe mich nur in den Bericht des kleinen Prinzen, der seine zwei tätigen und den einen erloschenen Vulkan putzt, Affenbrotbaumsprösslinge ausreißt, seine Rose liebt und nach aufregenden Reisen zurückkehrt zu seinem eigenen, kleinen Stern. Ich nehme es kaum noch wahr, dass ich nicht allein bin. Es läuft alles geradezu unheimlich leise, ruhig und gut. Ein-, zweimal verspreche ich mich tatsächlich, aber es ist gar nicht schlimm.

Nur schade, dass ich das begleitende Schauspiel nicht erleben kann. Irgendwann werde ich mir das Stück einmal ansehen, wenn die arme Kranke wieder auf dem Damm ist und ich es völlig frei und unbeschwert genießen kann.

Einen Augenblick ist Stille nach meinem abschließenden Satz, der Frage, ob das Schaf wohl die Blume gefressen hat, und dann prasselt plötzlich ohrenbetäubender Applaus an meine Ohren, Lichter gehen an, und ganz viele andere stehen um den Stuhl herum, alle, die mitgewirkt haben, kriegen ein Schulterklopfen oder Schlimmeres von Mondheim persönlich, so viele wollen dies oder jenes wissen – und nichts davon interessiert mich, denn neben mir steht Deinar und hält mich ganz fest.

***


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