Der SM Stammtisch

23. Januar 2013

Ich bin nervös wie ein Krimineller bei einer Straftat. Dabei ist es nur richtig und korrekt, was ich gemacht habe. Vielleicht nicht streng juristisch gesehen – wer zum Teufel soll denn auch durch die Tiefen des Zivilrechts durchsteigen? – aber moralisch. Die Unruhe treibt mich zur Eile an, und eine halbe Stunde später sitze ich sicher zu Hause, mit den Memorabilien meines Ex-Jobs im Karton unter der Spüle verstaut, damit ich sie nicht sehen und nicht nachdenken muss. Denn Nachdenken, das ist das Letzte, was ich jetzt machen möchte.

Wer soll soviel Windungen und Wirrungen in seinem Leben ohne eine Atempause verkraften?

Und ich habe ja nun sogar zwei Dinge, mit denen ich mich stattdessen beschäftigen kann. Einmal meine Geschichte; und dann diesen seltsamen Zirkel, den ich mir vorgenommen habe, doch etwas näher zu erforschen. Nicht dass ich naiv genug bin zu glauben, man würde mich aufnehmen oder mir auch nur freigiebig Informationen zukommen lassen. Gerade das reizt mich an dieser Aufgabe jedoch umso mehr. Wie kann ich das bloß anstellen, mehr zu erfahren?

Mein erster Gedanke ist eine Nachfrage beim örtlichen Stammtisch. Jenem unseligen Teil, das die Verbindung zwischen Maibaum und Cindy geschaffen hat. Dort kennt man mich allerdings nur oberflächlich, und wenn ich erkläre, dass ich sozusagen journalistisch unterwegs bin, wird das die Auskunftsfreude bestimmt nicht verstärken. Entsprechend zurückhaltend ist derjenige dann tatsächlich, den ich im Internet als Ansprechpartner mit Telefonnummer aufgetan habe. Dafür lädt er mich geradezu drängend zum nächsten der 14-tägigen Stammtische ein, deren nächster – was für ein Zufall – gerade diese Woche stattfinden soll; am Freitag Abend. Komisch – irgendwie bin ich ein wenig allergisch geworden gegen Freitag Abende. Die sind ohnehin schon immer schlimm genug; kein Abend kann der erschöpften Erwartung gerecht werden, die man nach einer Arbeitswoche an den Beginn des Wochenendes knüpft, und sei er auch, für sich betrachtet, noch so schön. Nachdem das nicht nur mein erster, sondern auch mein bislang einziger Ansatzpunkt ist, verspreche ich aber notgedrungen zu kommen. Deinar kann ich ja kaum zum Zirkel befragen – und Maibaum will ich nicht befragen. Ganz davon abgesehen, dass mir eine Antwort sowieso keiner von beiden geben würde.

Und was mache ich jetzt bis Freitag? An der Geschichte schreiben? Die ist mir inzwischen so etwas von über. Ich sehe alles schon vor mir, was nach dem ersten paradiesischen (jedenfalls hämmert uns irgendeine anerzogene Erwartungshaltung ja ein, es müsse paradiesisch sein) Mal geschieht. Die ersten Peinlichkeiten, die ersten Missverständnisse, die ersten Auseinandersetzungen, die ersten Vorbehalte.

Am interessantesten ist an jeder Liebesgeschichte doch eigentlich das Vorspiel. Das, was geschieht, bis es so richtig definitiv und klar und amtlich bescheinigt ist, man hat es mit einem zukünftigen Paar zu tun.

Die verstohlenen Blicke, die bewusst herbeigeführten Begegnungen oder gar Berührungen, die Angst, die Zweifel, die überschäumende Freude, die unbändige Hoffnung, und eine Phantasie, die sich alles, was passieren könnte, noch weit schöner ausmalt, als es jemals real überhaupt sein könnte, und sich von ihren eigenen Hirngespinsten nährt. Ach, eine herrliche Phase, eine solche Zeit, finden Sie nicht auch?

Man sollte immer nur über solche Anfänge schreiben. Das andere, was dann nachher wirklich geschieht, ist doch kaum interessant. Außer man sucht etwas zum Wichsen; und von dem Zeug gibt es ja weiß Gott schon genug, auch ohne dass jeden Tag Dutzende von Hobbyschriftstellern ihren weiteren Senf dazu geben müssen. So viele Stellungen, Praktiken und Konstellationen gibt es gar nicht, dass man nicht alles, was neu dazu kommt, nicht schon längst irgendwo anders auch schon einmal gesehen hätte.

Möchten Sie wirklich zum hundertsten Mal lesen, wie er der willigen Dreilochstute die Hände ans Bett fesselt und ihr den Gigantoman-Dildo in sämtliche Löcher schiebt? Manche sind ja so spritzversessen dabei, die achten nicht einmal auf die richtige Reihenfolge und fangen beim Arsch an. Theoretisch nichts dagegen; praktisch würde ich die drohende Pilzentzündung oder was auch immer dabei lieber verhindern; und was das dritte Loch angeht, stehe ich erstens ohnehin nicht auf Gummi, und zum zweiten schon gar nicht auf braunen.

Nicht dass diese nervtötende Eintönigkeit an der Rollenverteilung liegt. Die unbeschwanzten Doms können auch immer nur blödsinnige Befehle bellen und voller Befriedigung zusehen, wie „er“ willig und eifrig lauter Dinge tut, die den meisten Männern nicht einmal in einem feuchten Traum einfallen würden. Zumindest nicht aktiv; passiv dann schon eher.

Geschlechterabhängig ist die programmierte Langeweile also nicht. Wobei man, was die Zielgruppe solcher Stöhnolympiaden betrifft, die im täglichen Leben keiner erleben kann oder auch nur will, durchaus den Verdacht haben kann, sie sei vorwiegend männlich. Das kommt halt davon, wenn man ein Anhängsel hat, das unbedingt selbst denken will. Obwohl es gerade für das Teil nun wirklich weit bessere Verwendungsmöglichkeiten gibt.

Ich weiß übrigens, warum so viele SM-Geschichten in der historischen Vergangenheit spielen. Nicht etwa weil es damals so tolle Foltermethoden gab; das mag allenfalls am Rand von Bedeutung sein. Vorwiegend geht es darum, bei einer mittelalterlichen Episode ist die fehlende Verbindung zum eigenen Alltag schlicht offensichtlich – woraus ein Schreiberling die Rechtfertigung für noch die schrillste Schräglage in punkto Realismus ziehen kann. Vielleicht sollte ich das auch einmal probieren? Immerhin können in einer solchen Story keine neumodischen Beziehungsprobleme auftreten; und wo es noch keine Zahnbürsten gibt, stellt sich auch nicht das Problem, ob der neugewonnene Liebhaber die eigene mitbenutzen darf oder nicht.

Was nehmen wir dafür? Ein Gefängnis natürlich; respektive einen Kerker. Nichts erweckt so schnell und den gründlich den Eindruck absoluter Macht- und Hilflosigkeit; und das ist es doch schließlich, worauf Doms so stehen; seien sie nun männlich oder weiblich. Andererseits sollte der oder die derart Beraubte die Folter ja auch genießen; sonst macht es keinen Spaß. Wir Sadisten sind schließlich keine Sadisten. Und wo soll der Spaß herkommen, wenn man eingesperrt ist, in einem Minizimmer ohne Klo, mit fließendem Wasser allenfalls an den Wänden, einer Schütte Stroh als Unterlage und täglich nur Wasser und Brot? Nein, ich glaube nicht, dass mir eine solche Erzählung Vergnügen bereiten könnte.

Interessant wäre doch allenfalls die Errettung der misshandelten Schönheit durch den Ritter auf dem weißen Pferd, den märchenhaften Prinzen, der sie einfach zu sich aufs Pferd holt, ungewaschen, ungekämmt und stinkend, wie sie so daliegt nach ihrer langen Gefangenschaft, und sie in sein Schloss entführt. Wo sich natürlich erst einmal 20 Hofdamen um ihre Toilette kümmern müssen und aus dem Nichts faltengenau passende Prachtgewänder herzaubern. Hochzeitsgewänder natürlich, und auf geht es zur prunkvollen Hochzeit, wonach die beiden glücklich leben bis an ihr Lebensende. Nur, wo steckt da der Sadomasochismus? Das ist doch einfach nur der Wunschtraum (fast) aller Frauen vom Teenageralter an und hat mit lustvollem Fesseln, Peitschen und Kitzeln nicht das geringste zu tun.

Ich fürchte, ich bin einfach nicht gemacht für erotische Geschichten; binnen kürzester Zeit hängen die mir zum Hals heraus. Falls es dem Stoff überhaupt gelingt, mich lange genug zu fesseln, um die ersten Absätze niederzuschreiben.

Oder es wird einfach Zeit, dass ich mal wieder aus eigener Anschauung etwas Erotisches zu berichten habe. Nur Träumen macht auf die Dauer nicht befriedigt.

Bloß müsste ich mich dazu erst einmal wieder verlieben. Bei dem Geschick, dass ich bei Maibaum bewiesen habe, kann das ja nur ins Auge gehen.

Eine willkommene Ablenkung – das Telefon. Obwohl eigentlich keiner wissen kann, ich bin um die Zeit schon zu Hause. Das heißt doch, einen gibt es, der es ahnen könnte – und genau der ist es auch: Deinar. Ob alles geklappt hat, will er wissen. Nun ja – wie man es nimmt. Noch weiß ich ja nicht, ob mir nicht noch jemand den Arsch aufreißt für meine unverschämte Frechheit mit der Abänderung des Vertrags. Mit soviel Papier kann man allerdings ohnehin nur die fangen, die sich für intelligent genug halten, noch die kompliziertesten Dinge zu verstehen und sich keine Blöße geben wollen, oder die ganz Dummen, die vor jedem geschriebenen Wort zusammenzucken. Der Dumme kann allerdings auch jemand sein, der zu beiden Gruppen nicht gehört.

Deinar amüsiert sich königlich über meinen Streich. Das pieft mich schon fast ein wenig an, bis er sich endlich wieder einkriegt und mich beruhigt. „Von denen werden sie so schnell nicht wieder etwas hören,“ meint er. „Achten Sie bloß drauf, dass die Überweisung stimmt und das Zeugnis ordentlich ist. Kennen Sie sich aus mit Arbeitszeugnissen?“ „Nicht so ganz,“ muss ich zugeben. „Dann geben Sie es einfach mir,“ erwidert er. „Ich schaue mir das mal an und prüfe, ob alles seine Ordnung hat. Die Herrschaften haben Sie mehr als genug geärgert, das sollte jetzt ein Ende haben.“

Dem kann ich natürlich nur zustimmen. Tröstlich, jemand, der so völlig selbstverständlich und unzweideutig auf der eigenen Seite steht.

Na, das wird sich schnell genug ändern, wenn ich seine Angestellte bin und die Gegensätzlichkeit der Interessen die schöne Solidarität aufhebt. Ob er auch zu den höheren Managern gehört, die sich schlimmer aufspielen als der eigentliche Chef, der sich im Zweifel um nichts kümmert, solange seine Kohle reinkommt? Da sind viele in den höheren Führungsetagen auch nicht besser als Beamte, bei denen viele so tun, als stamme jeder Cent, den man bei ihnen beantragt, aus ihrer eigenen Tasche. Gut dran ist, wer so loyale Mitarbeiter hat …

Mist, jetzt habe ich über meinen eigenen Gedanken schon wieder einen halben Satz meines Gesprächspartners nur mit halber Aufmerksamkeit wahrgenommen. Zum Glück reicht der Rest aus, den ganzen Sinn zu erschließen. Deinar will mich zum Essen einladen. (Schon wieder? Ob dem gar nichts anderes einfällt? Wie wäre es denn mit Kino oder so?) Am Freitag Abend.

Eine klasse Idee von ihm; das wäre der Abend, an dem ich sonst am meisten grübeln, mich ärgern und aufregen würde bei Gedanken an die jüngste Vergangenheit. Bloß dass ich diesen Freitag ja schon etwas vorhabe – den Stammtisch. Zögernd berichte ich ihm das; hoffentlich merkt er, mein Bedauern über den vergebenen Terminkalenderplatz ist echt. Und was sagt der Typ? Er will mitkommen!

Na, das kann ja heiter werden! Als ob ich nicht nach der Erfahrung mit Maibaum genug davon hätte, mit Nicht-SM’lern Dinge zu unternehmen, an die man nur SM’ler ranlassen dürfte. Obwohl – Maibaum ist ja wohl einer. Dann zählt das nicht, denn die Katastrophe war ja nicht stinomäßig, sondern rein persönlich. Das lässt mich innerlich jubeln, denn eigentlich hätte ich schon Lust, nicht als Solo-Frau bei einer solchen Gelegenheit aufzutauchen.

„In Ordnung,“ sage ich. Ja, ich weiß – das klingt, als sei Deinars Begleitung für mich nur Mittel zum Zweck. Der kostenlose Casanova ganz ohne Begleitagentur. Aber das stimmt nicht! Ich sagte doch schon, ein Abend in seinem Beisein ist mir höchst willkommen. Es geht doch nichts über Freunde in einer Welt, deren Verlässlichkeit sich so plötzlich und umfassend als trügerisch herausgestellt hat.

Freunde sagte ich; nicht Freundinnen.

***

Die Stunden bis zum Freitag Abend verbringe ich mit einer Art Frühjahrsputz. Obwohl schon fast Sommer ist. Was soll ich denn sonst machen? In einer solchen Situation eine Geschichte schreiben zu wollen, ist doch ein vergebenes Unterfangen. Wie soll die Inspiration fließen, wenn das zu Entsetzenseis geronnene Blut gerade erst selbst wieder flüssig zu werden beginnt? Das einzige, was es mich aufzuschreiben drängt, ist die bereits erwähnte Bilanz der jüngsten Vergangenheit. Dafür müsste allerdings mein Verstand erst einmal wieder auftauen – und der scheint von der Eiszeit übergangslos zu wechseln in eine Art Erholungs-Schockzustand und weigert sich zu kooperieren. Eine Tätigkeit muss her, sonst sterbe ich vor Nervosität. (Eigentlich seltsam – es ist doch jetzt soweit alles überstanden; aber der Adrenalinpegel bleibt konstant, als befinde ich mich noch mitten im Kriegsgebiet.) Da gibt es doch nichts Geschickteres als stupide, blödsinnige, praktische Arbeit, die man ohne zu denken erledigen kann. Kennen Sie etwas Stupideres als Hausarbeit?

Katrin ruft zwischendurch an; ich soll am Freitag Abend den Babysitter machen. Ja, von wegen; die haben die Blagen selbst gemacht, sollen sie also auch selbst drauf aufpassen. Was für ein Glück, dass ich längst selbst etwas vorhabe. Natürlich ist da ein Hauch schlechtes Gewissen, eine Freundin im Stich zu lassen. Was Katrin prompt ausnutzt, um mich für Samstag Nachmittag dann doch als Löwenbändiger einzuplanen. Scheiße.

Nach dieser Unterbrechung kann ich ja auch die zwei anderen längst fälligen Telefonate noch hinter mich bringen. Evelyn ist auf dem Sprung zur nächsten Verabredung. Es freut mich für sie, dass ihre neueste Flamme sich auch nach mehreren Wochen noch nicht als Spar- erwiesen hat. Oft genug kriege ich spätestens nach 14 Tagen die ersten Horrormeldungen über den neuesten Beziehungsautisten, den sie sich jetzt wieder ausgesucht hat. Vielleicht ist es diesmal ja tatsächlich die große Liebe. Nicht, dass die nicht auch Probleme genug machen würde.

Martina reagiert genauso, wie ich das befürchtet habe. Ich kann ihre gekrauste Stirn und ihre hochgezogenen Augenbrauen förmlich riechen. „Bist du sicher, dass du dir das gefallen lassen solltest?“ fragt sie. „Also, ich würde mich nicht einfach so aufs Abstellgleis schieben lassen.“ Ja, klar. Nicht, dass ich eine Wahl gehabt hätte – aber ihr das zu erklären fordert weit mehr Grips, als ich ihn derzeit auf die Waage bringen kann. Ich sage ja – Martina benimmt sich wie ein Mann. Wie ein Karrierehengst. Da gibt es keine Kompromisse, keine Hilflosigkeit. Nein, es gibt keine Situation, der man nicht zumindest in der Theorie gewachsen wäre und aus der man sich nicht eine weitere Sprosse hoch hangeln könnte. Alles andere ist Schwäche, Feigheit, Unfähigkeit. Nun gut – soll sie mich eben für schwach, feige und unfähig halten. Auch recht. Wenn sie allerdings glaubt, dass mich das nun sonderlich zu ihr hinzieht, dann täuscht sie sich. Ich beende das Gespräch, indem ich mit dem Funktelefon vor meine Haustür marschiere und klingele. Woraufhin ich leider wegen überraschenden Besuchs das Telefonat mit ihr beenden muss.

Auf einmal will sie dann doch noch das eine oder andere; vor allem aus ihrem Leben berichten. Sie brauche meinen Rat. Ich bitte sie, später noch einmal anzurufen. Wer selbst nicht trösten will, sollte sich nicht wundern, wenn er bei eigenen Bedürfnissen auch bloß ver-tröstet wird.

Bleiben noch meine Eltern. Nein, denen sage ich nichts. Solange sie mir kein Geld geben müssen, ist für sie auch ohnehin alles in Ordnung. Natürlich hätten sie lieber eine beruflich absolut erfolgreiche Tochter, am besten daneben noch verheiratet mit zwei Kindern (mehr sind ja asozial), aber dann hätten sie eben an einem anderen Tag vögeln sollen. Ich habe mir meine spezielle Genkomposition nicht ausgesucht.

Martinas Problem stellt sich als das heraus, was ich bei ihr immer befürchtet habe – eine Affäre mit einem Vorgesetzten, der noch dazu verheiratet ist. Nein, ich will ihr jetzt gar nicht unterstellen, sie hätte das nur zur Förderung ihrer Karriere gemacht. Sie scheint tatsächlich in den Typen verknallt zu sein. Nur ist für jeden Fremden, der ihrer Tirade zuhört, ganz offensichtlich, er hat die Schnauze voll und den Pimmel leer und will nicht mehr.

Was sie jetzt machen soll, fragt sie mich.

Ja, was wohl? Wunden lecken und wegschleichen. Aber erstens will ich nicht zum Überbringer solcher Hiobsbotschaften werden und so in der notwendigen Diskussion Dinge erklären, verteidigen müssen, mit denen ich nichts zu tun habe. Und zweitens ist wegschleichen ja – richtig: Schwach, feige und unfähig.

So rede ich ein wenig dummes Allgemeinplatzzeug und lade sie für den Sonntag zum Kaffee ein, damit man besser quatschen kann. So per Telefonhörer ist das ja nichts. Damit erkaufe ich mir nur einen Aufschub, keine Erlösung – aber Freunde sind nun einmal dafür da, dass man sich allenfalls vorübergehend aus der Verantwortung stiehlt. Am Wochenende etwas zu tun zu haben, kommt mir ohnehin entgegen. Und bevor Martina kommt, muss in meiner Wohnung noch einiges geschehen, sonst kriege ich wie beim vorletzten Mal wieder einen Vortrag zu hören, auch eine berufstätige Frau könne ohne weiteres daneben eine gute Hausfrau sein. Was für ein Glück, dass ich sowieso schon beim Hausputz bin; das passt sich hervorragend.

Ja, so vergeht die Zeit mit Putzereien und gedanklichen Tändeleien. Erst am Freitag gegen vier fällt mir ein, ich sollte mich vielleicht auch mal um meine Kleidung für den Abend kümmern. Nicht wegen Deinar – aber ich will ja nicht auffallen. Wenn ich meinen letzten Besuch beim Stammtisch noch richtig in Erinnerung habe (ist jedoch, wie gesagt, schon Jahre her), tauchen die Leute da vom Kartoffelsack über den Abendanzug und voller Lackmontur in allem auf, was man sich nur denken kann. Die meisten waren allerdings in Jeans. Bloß, wenn ich schon abends ausgehe, muss es ja nun auch nicht gerade die Alltagskleidung sein, oder? Dann lieber Satinleggins, flache, aber lange Stiefel und ein stinknormales schwarzes T-Shirt mit geschnürtem, tiefen Ausschnitt, der eine Sightseeing-Tour nach Bedarf ermöglicht. Nicht zu warm – schließlich wirkt es draußen ein bisschen wie Sommer – nicht zu auffällig, und gleichzeitig chic genug, sich von meinem normalen Outfit ein wenig zu unterscheiden.

Was Deinar wohl anhat? Na, als Mann kommt er bestimmt ganz einfallsreich entweder in schwarzer Stoff- oder in schwarzer Lederhose und schwarzem Hemd. Die Ausgehuniform für phantasielose SM’ler. Obwohl, er ist ja gar keiner. Dann vielleicht doch eher Jeans. Was hatte er eigentlich an, als ich ihn vorher getroffen habe? Einmal Anzug, das weiß ich. Aber ansonsten irgendetwas, das zurückhaltend genug war, mir nicht ins Auge zu springen. Schweres Versäumnis.

Allerdings scheint das eher an seiner Persönlichkeit zu liegen. Als er pünktlich vor meiner Tür steht und mich so anlächelt, als sei es ihm eine wirkliche Freude, mich zu sehen, versäume ich es wieder fast zehn Minuten lang, mir seine Klamotten näher anzusehen. Wer schielt schon lieber auf den Hosenstall statt auf freundliche Augen.

Auffällig ist das Zeug auch wirklich nicht, das er angeschmissen hat; Stoffhose ja, aber in einem dunklen beige, dazu ein weißes T-Shirt und ein dunkelgraues Jackett. Damit kann er fast überall auftauchen. Gerade die Tadellosigkeit der Kleidung lässt mich aber vermuten, er wird am Stammtisch auffallen. Und so ist es auch. Wir werden beide beäugt, als seien wir zwei neuentdeckte Weltwunder.

Derjenige, mit dem ich telefoniert habe – dessen offensichtlich dominante Partnerin zumindest ihn, wenn nicht gar den gesamten Stammtisch im Griff hat – begrüßt uns beide zwar sehr freundlich, aber ich spüre doch eine gewisse Reserviertheit. So gewinnt man neue Mitglieder, denke ich für mich.

Irgendwie werde ich den Eindruck nicht los, als sei man über eine weitere Frau in dieser Runde mit Männerüberschuss richtig froh, selbst wenn sie eine Neue ist, aber Deinar ist nun vollends unwillkommen. Aus welchen Gründen auch immer. Das weckt sofort meine Beschützerinstinkte. Unter den Schwarzlederhampeln, die ich hier entdecke – Doms, die Arrog- mit Dominanz verwechseln und Subs, die am liebsten meinen Subway betreten würden und das nur zu deutlich zeigen – ist er mir auf jeden Fall der erheblich liebere Tischgenosse.

Zuerst redet man über das Wetter, die Arbeit und die Politik, als sei dies hier eine ganz stinknormale Versammlung. Die Abgrenzung von den Stinos kam mir schon immer zu gewollt und künstlich vor; so als verhindere die Faszination für SM ein ganz normales Leben nebenbei. Dann geht es um irgendeine Party, die organisiert werden muss. Nein danke. Die werde ich weder besuchen, noch bei den Vorbereitungen helfen. Das wäre ja noch schöner – von allen angestarrt werden wie ein Mondkalb, weil man neu ist, aber arbeiten darf man schon mal. Zwischendurch unterhält man sich, als gebe es da nicht einen, der versucht, die Aufmerksamkeit aller zu erringen. Oder vielmehr eine; die Herrin unseres Begrüßers ist es, die die Fäden in der Hand hält oder eher zu halten versucht. Sie wird konstant lauter – was auch kein Problem ist, da der Stammtisch extra das Hinterzimmer gekriegt und für sich hat, so dass man nicht mit ruckartig überschwenkenden Blicken rechnen muss, sobald das falsche Wort fällt -, aber auch das stopft der Unhöflichkeit nicht das Maul. Sie macht trotzdem ihren Stiefel und sammelt eine Liste von potentiellen Helfern. Das fängt sie ganz geschickt an. Jeder wird einzeln gefragt und muss sich mit einer Ablehnung öffentlich blamieren; selbst mir als Neuling ist das Nein-Sagen unangenehm. Das trauen sich wohl nicht viele, und so kann sie eine stattliche Zahl an Helferlein aufschreiben.

Danach wird über einen Vortragsabend eines anderen SM-Kreises informiert, bei dem möglichst viele erscheinen sollen. Erst danach ist die freie Rede erlaubt. Plötzlich allerdings herrscht Schweigen; so als wisse niemand etwas zu sagen, wenn das Sprechen endlich erlaubt ist. Eine gewisse Subversivität ist uns SM’lern anscheinend eigen; und nichts schlimmer, als wenn verbotene Taten auf einmal öffentlich akzeptiert sind. Nichts mehr mit Mantel, Degen und Maske; einfach freies Ausleben freier Wünsche. Damit können die meisten von uns doch gar nicht umgehen, und für andere ginge damit jeder Reiz verloren.

Manchmal frage ich mich, warum ich überhaupt unter Leute gehe, wo ich doch sowieso mit nichts zufrieden bin und an allem etwas zu Meckern habe. Na, egal; ich lebe nun einmal nicht auf einer Insel. Aber ein Abend mit Deinar allein wäre sicher weit weniger langweiliger gewesen. Ist doch viel angenehmer, wenn man das einzige Zentrum der Aufmerksamkeit eines anderen ist.

Und erreicht habe ich auch nichts durch diesen Stammtischbesuch. Zwar kommt das allgemeine Gespräch doch noch in Gang, und dabei stelle ich fest, ein, zwei sind mir sogar sympathisch, wenn ich sie nicht als Gruppenbestandteil sehe, sondern als Individuen und mich direkt mit ihnen austausche (ich sage ja – nur im Einzelgespräch liegt die wahre Aufmerksamkeit), aber wenn ich dann endlich ganz vorsichtig versuche, das Gespräch auf den SM-Zirkel zu bringen, weiß keiner etwas oder behauptet das zumindest.

Nachher schlägt Deinar vor, noch eine Pizza essen zu gehen. Ich stimme freudig zu. Müde bin ich zwar schon lange, aber mit einem so unbefriedigenden Beginn wie der Versammlung eben will ich nicht ins Wochenende gehen.

„Sie wollen unbedingt mehr über diesen Zirkel wissen?“ fragt er mich, kaum dass wir bestellt haben.“ Es ist eher eine Feststellung, keine Frage.


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