Ein SM Magazin und keine Regeln
Der Rückweg von diesem Büro, in dem ich nun also zumindest die nächsten Wochen arbeiten werde, ist zu kurz, um in irgendetwas Ordnung hineinzubringen; geschweige denn in das verknäuelte Zeug in meinem Gehirn.
Warum kann ich nicht einfach einen einzigen, simplen Job haben – klar abgegrenzt, durchsichtig, dauerhaft -, sondern muss mich stattdessen mit immer neuen Änderungen herumschlagen?
Ein Internetportal und ein Printmagazin; kleiner hatte man es wohl nicht, bei Mondheims. Hoffentlich erwarten die nicht, dass ich beides als Einfraubetrieb ganz alleine auf die Beine stelle.
Ist mir diese neue Aufgabe jetzt eigentlich lieber als die alte – oder hat mir das nur ein weiß der Teufel woher angeflogener erster Überschwang vorgetäuscht? Nein, ich glaube, sie ist in der Tat viel eher etwas für mich. Natürlich habe ich mir in den letzten Wochen oft vorgestellt, auch einmal über Politik zu schreiben, über Wirtschaft oder das Wetter – und genau das hätte mir beim Blatt bevorgestanden. Aber eigentlich will ich das gar nicht. Jedenfalls nicht so richtig. Ich will über das Leben selbst schreiben. Über den Alltag. Auch über politische Intrigen, denn die gehören dazu – aber mit dem Schwergewicht nicht auf hochgeputztem Blabla, sondern auf den tatsächlichen, realen Folgen.
Man wird mir jetzt vorwerfen, mit der Erotik beleuchte ich ja auch nur einen kleinen Ausschnitt des Lebens. Sicher. Nur, ist der nicht an dem, was das eigentliche Wesen eines Menschen ausmacht, noch weit näher dran als neue Steuergesetze und Positionengerangel in den Parteien? Sind wir nicht dort noch viel mehr wir selbst als in intellektuellen Diskussionen über den Sinn dieser oder jener Außenpolitik?
Ich suche den Kern der Menschen. Das eigentlich Entscheidende ihres Wesens. Und, es tut mir Leid, aber ich finde, so ganz persönlich, in der Erotik sind die meisten von uns weit echter und authentischer als in irgendeinem anderen Teil ihres Lebens.
Wobei ich keineswegs vorhabe, mich auf die reine Erotik zu beschränken. Keine Ahnung, wie Mondheim das sieht – bloß, wenn er mir auch nur einigermaßen freie Hand lässt, werde ich diejenige sein, die die Inhalte bestimmt und die Grenzen zieht. Ganz weite werden das sein. Finden Sie nicht auch, ein Portal, das sich ausschließlich mit Sex beschäftigt, ist schlichtweg stinkelangweilig? Ganz gleich, ob es stinkenormaler Sex ist, um den sich alles dreht, oder sadomasochistischer. Ob roter Cayennepfeffer oder milder grüner – Pfeffer bleibt Pfeffer, und Sex bleibt Sex.
Okay, ein Kontaktmarkt muss her, ein Kalender für passende Veranstaltungen, jede Menge Sachartikel über Techniken, persönliche Berichte, schöne Bilder, intelligente Geschichten (also nicht der Schrott, den ich begonnen habe, um Maibaum eins auszuwischen); das Übliche halt. Und daneben müssen Themen her, die wirklich packen. Die auch Tabuthemen anpacken. Sm und Behinderung beispielsweise. Und tabu ist in einem Erotikportal ja auch die Politik. Oder alles andere, was nicht Schamlippen und Schwanz im Auge hat. Na also.
Gerade im Zirkel vermischen die doch alle Erotik und Job. Warum das Ganze dann nicht offen betreiben? Einen Jobmarkt einrichten, beispielsweise. Und zwar nicht einen für die Nachwuchsdomina im Studio und den Putzsklaven für Samstag Abend, sondern einen für richtige Stellen. Einfach das, was sich außerhalb des Intimen im Leben abspielt, mit hineinholen in das Portal. Das wäre meine Vorstellung.
Auf jeden Fall auch Beratung anbieten. Und zwar nicht über die maximale Wassermenge beim Einlauf, die maximale Dicke des Analplugs und die maximale Höhe bei der Suspension-Bondage, sondern eine Beratung über wirkliche Probleme. Weit über pure Techniken hinaus. (Apropos Technik – ich muss dringend fragen, ob im Zirkel ein Arzt ist; damit das neue Portal bei medizinischen Fragen nicht auch so ein Laienschauspiel bietet wie viele andere SM-Seiten im Netz.) Ich will einen Ort schaffen, an dem man sich auch über das aussprechen kann, was zwischen SM’lern oft genug peinlicher zu erörtern ist als mit Vanillas die Sinnliche Magie. Was ist, wenn die dominante Dame keine Lust hat zu dominieren. Muss der Sklave sich wirklich alles gefallen lassen. Was tun, wenn mich ekelhafte Folterszenen erregen. Wie werde ich damit fertig, dass man Partner nicht so will, wie ich das will. So etwas. Das, worüber man meistens nicht spricht.
Vielleicht geht das in einem Forum. Obwohl das, was es bereits an Foren gibt, im Zweifel irgendwann immer abgleitet in eine Arena für wortreiche Selbstdarsteller und Formulierungsgladiatoren.
Wie kommt es eigentlich, dass ich die ersten Ansätze eines Konzeptes noch auf der Autofahrt in den Kopf kriege? Kann es sein, dass Mondheim mit dieser neuen Idee und meiner Besetzung voll ins Schwarze getroffen hat? Es scheint jedenfalls so.
Auf einmal kann ich es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und die ersten Gedanken schriftlich zu fixieren. Damit nichts verloren geht.
Der lange Abend – es ist erst halb neun, als ich mein Auto abstelle – verfliegt wie nichts, und schon ist es nach Mitternacht. Höchste Zeit, schlafen zu gehen. Mondheim wird staunen, was ich ihm alles schon vorlegen kann. Ha, und nicht eine Sekunde lang habe ich an Deinar gedacht!
Na ja, gut, ein paar Sekunden waren es schon – aber irgendwie ist er völlig untergegangen im Kreativitätsschub. Wobei ich ja schon gerne wüsste, was er wohl heute Abend vorhatte; und warum er mir das nicht einfach gesagt hat, statt mich begründungslos auf den nächsten Tag zu vertrösten. Und dass er nicht selbst mit mir sprechen wollte, nehme ich ihm auch übel. Er kennt doch Mondheim und weiß, dass der alles überrollt, was nicht laut genug Halt schreit und dabei die Boxhandschuhe auspackt. Selbst ich weiß das schon. Mich allerdings kann er noch relativ leicht austricksen; Deinar jedoch wird sich inzwischen wohl zu wehren gelernt haben.
Nicht dass mich das im Augenblick interessiert; ich bin zum Umfallen müde.
Viel zu früh holt mich ein unangenehmes Geräusch aus dem nahezu bleiernen Tiefschlaf. Erst bei der Wiederholung schafft mein Verstand die korrekte Einordnung; es ist die Türklingel. Fluchend quäle ich mich aus dem Bett. Wer auch immer das ist, er kann was erleben!
Das erste, was ich nach dem Öffnen der Tür sehe, ist die Brötchentüte, mit der ich gestern gerechnet hatte. „Du legst es wohl darauf an, mich regelmäßig zu wecken,“ zische ich ungnädig, aber auch das kann Deinars abstoßend guter Morgenlaune ersichtlich nichts anhaben. „Sie hatten ein Frühstück bestellt, Mylady,“ sagt er und schwenkt die Tüte nebst einem weiteren Plastikbeutel. „Sie dürfen sich gerne ins Bad zurückziehen und sich frisch machen – ich werde mich in der Zeit um alles kümmern.“
Der hat ja vielleicht Nerven! Soll ich ihn gleich wieder rausschmeißen?
Lieber nicht; das Hickhack der letzten Tage hat ein ordentliches Loch in die weiche, warme Decke gerissen, die gerade dabei war, um uns herum zu entstehen. Wenn ich jetzt zu pampig reagiere, verzieht er sich womöglich beleidigt, und wer weiß, ob und wann wir dann wieder zueinander finden. Nein, wenn er sich soweit überwinden kann, hier den gefälligen Frühstücksdiener zu machen, werde ich nicht die Unversöhnliche geben.
Wenn man schon einmal etwas richtig kitschig Schönes erlebt, sollte man den geschenkten Gaul nicht zum Zahnarzt schicken.
Ein klein wenig Zickigkeit allerdings ist ja wohl erlaubt. „Falls du vorhast, das zur Regel werden zu lassen, wünsche ich mir beim nächsten Mal stattdessen lieber ein Abendessen!“ Mit diesen hoheitsvollen Worten rausche ich ab ins Wohn-/Schlafzimmer, ein paar Klamotten zusammensuchen, und verschwinde im Bad. Scheint bei uns beiden langsam zur Regel zu werden, dieser Ablauf.
Eine Viertelstunde später stehe ich frischgeduscht in der kleinen Küche. Der Tisch ist gedeckt, es gibt außer den Brötchen Tee, Eier, Marmelade und Aufschnitt. Sahne und Zucker aus meinem Bestand hat er auch gefunden; schön, wenn jemand über meine kleinen seltsamen Vorlieben Bescheid weiß. Und wo ist die rote Rose? Nun ja, ich will mal nicht übertreiben; das ist für den Anfang schon ganz nett.
Mit einer schwungvollen Handbewegung bittet Deinar mich, Platz zu nehmen.
Ich weiß nicht – irgendetwas stimmt nicht. Würde ich jemandem erzählen, was ich gerade erlebe, jeder würde mich lauthals beneiden und es absolut oberaffenklasse finden. Doch etwas ist schief und hängt mir wie eine unliebsame Gräte zwischen den emotionalen Zähnen. Sollten solche Dinge nicht Spaß machen? Sollte ich mich nicht daran freuen können, so überrascht zu werden? Warum ist mir dann so unwohl zumute?
Ach, vielleicht bin ich auch einfach nur eine dumme Gans, die mit nichts zufrieden ist.
So, und jetzt genieße ich erst einmal das mir so unerwartet bescherte Frühstück, nachdem ich mich artig bedankt habe.
„Na, und?“ fragt Deinar, da habe ich kaum den ersten Bissen Brötchen unten. Will er reden – oder darf ich vorher essen? „Was hältst du von Mondheims neuen Plänen?“
„Ich war etwas überrascht,“ antworte ich und spiele mit den verstreuten Krümeln. „Es – es ist schon ziemlich verwirrend. Erst soll ich das eine machen, dann das andere.“ „Aber es interessiert dich doch, oder?“ „Klar interessiert es mich. Sogar weit mehr als die Arbeit beim Blatt; ohne dich beleidigen zu wollen. Trotzdem – ich mag es nicht, wenn man sich gemeinsam auf etwas einigt und das dann kurzerhand über Bord geworfen wird. Außerdem habe ich ein schlechtes Gewissen dir gegenüber.“
Das löst nur ein abfälliges Lachen aus. „Das brauchst du nun wirklich nicht. Erstens hat Mondheim mich ja vorher gefragt, das hat er dir ja sicher gesagt. Du bist nun einmal die beste Wahl für diesen neuen Job. Und zweitens werde ich schon Ersatz finden, verlass dich darauf.“
Meine Erwiderung verläuft auf zwei parallelen Spuren. Nein, Mondheim hat nicht erwähnt, dass er Deinar vorher gefragt hat; wäre alles schon klar gewesen, hätte er ihn ja auch gar nicht mehr anrufen müssen. Es war nur die Rede davon, dass er bereits informiert ist. Und es ist nicht unbedingt aufbauend für mein Ego, nun gleich noch einmal zu erfahren, wie austauschbar ich für das Blatt bin. Laut sage ich natürlich nur: „Dann ist ja alles in Ordnung.“
Noch immer, ja sogar noch mehr als die ganze Zeit vorher komme ich mir vor wie ein Spielball im Spiel anderer. Vielleicht ist es Zufall, dass die anderen alle Männer sind; vielleicht auch nicht. Jedenfalls, ich hasse dieses Gefühl. Wenn ich bloß wüsste, was man dagegen machen kann. Nicht gegen das Gefühl – gegen seine Ursache.
„Wir werden trotzdem noch immer eng zusammenarbeiten,“ erklärt Deinar. „Ich glaube, ich kann ohne Übertreibung sagen, ich verstehe etwas mehr als du von gedruckten Erzeugnissen. Die Artikel zu schreiben ist da ja noch der geringste Aufwand. Du hast meine volle Unterstützung bei allen technischen Fragen. Das wird dir Mondheim auch noch einmal sagen.“
Na großartig. Du beherrschst den Job zwar nicht, Kleine, aber du bist trotzdem die Richtige dafür, und ich werde dir schon helfen, wenn du nicht weiter weißt. Das ist ja wohl in etwa die Übersetzung dieser freundlichen Mitteilung.
Mir ist der Appetit vergangen. Die Strafe hatte ich mir anders vorgestellt. Sie hätte ihn ja nicht unbedingt schmerzen müssen – nur, ein wenig Vergnügen auf meiner Seite halte ich schon für notwendig. Das hier, das ist ein Arbeitsfrühstück, und nichts anderes. Noch dazu fühle ich mich mit dem gesamten Thema und der Art und Weise, wie er es anpackt, äußerst zusammengeknittert.
Ich ertappe mich bei dem Wunsch, er möge bald zu seinem Arbeitsplatz verschwinden müssen, damit ich in Ruhe nachdenken kann, und ich schäme mich dessen fast gar nicht.
Er tut mir den Gefallen schon zehn Minuten später. Ein wenig Bedauern darüber spüre ich auch, aber weit überwiegend Erleichterung.
Himmel, wie soll ich es jemals schaffen, eine klare Einschätzung meines Lebens zu kriegen, und noch wichtiger, einen klaren Zukunftsplan, wenn sich alle möglichen Leute immer wieder einmischen in eben das, mein Leben? Nicht dass ich nun unter die Einsiedler gehen möchte; aber etwas geregelter könnte es schon ablaufen, was die anderen mit mir anstellen.
***
Wobei – so sehr berechenbar bin ich für die anderen sicher auch nicht. Wenn ich mich einmal bemühe, mich in Deinar hineinzuversetzen, dann kann ich schon verstehen, warum er auf einmal so anders ist mir gegenüber. Kennen gelernt hat er mich als die kleine Hilflose, die gerade ihren Job verloren hatte und ihn um Hilfe bat. Die er mir mehr als reichlich gegeben hat. Statt der Arbeit unter ihm (und das meine ich jetzt weder ironisch, noch erotisch) soll ich jetzt aber völlig unabhängig von ihm etwas aufbauen. Und meine Stellung in dem Kreis, in den erst er mich gebracht hat, ist zwar längst nicht zu vergleichen mit seiner – aber sie ist ganz wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass sie sich sehr schnell von eben jener losgelöst hat. Es ist meine eigene; von Mondheims und meinen Gnaden, nicht von Deinars. Obwohl ich ohne ihn diese ganzen Leute nie gesehen oder zumindest nie etwas mit ihnen zu tun gehabt hätte.
Also mit anderen Worten – er nimmt mich an der Hand, führt mich ein, und schwupps! lasse ich los und gehe allein weiter. Das muss ihn doch durcheinander bringen, vielleicht sogar ärgern.
Entschuldigt das sein Verhalten? Keine Ahnung. Vor allem kann ja durchaus auch noch etwas ganz anderes hinter der plötzlichen Veränderung stecken.
Momentan komme ich mir jedenfalls vor, als führe ich zusammen mit einem Partner einen lange einstudierten Tanz auf, und nachdem wir aus zwei verschiedenen Ecken losgetanzt sind und uns in der Mitte der Fläche begegnen, stelle ich fest, mein Partner ist gar nicht der, mit dem ich geübt habe, sondern ein Unbekannter. Er ist ebenso groß, hat dieselbe Figur, trägt dasselbe Kostüm – aber ich kenne ihn nicht. Und ich überlege nun, soll ich weitermachen, als sei nichts gewesen, soll ich abbrechen, laut schreien, lachen, den gelungenen Austausch beklatschen?
Es gibt keine vorgegebenen Regeln für solche Fälle. Alles „man tut“ und „man darf nicht“ schweigt in diesem Vorfeld einer Beziehung. Sobald man sich einmal zusammengetan hat, gibt es Benimmvorschriften und ethische Normen, an die man sich zwar nicht halten muss, die aber doch eine gewisse Orientierung bieten. Vor diesem Entwicklungsschritt allerdings schweigt der Ehrenkodex. Es gibt nun einmal keine Verpflichtung, etwas mit einem anderen anzufangen.
Vielleicht sollte ich erst einmal ein wenig abwarten. Geduld ist in den meisten Fällen ein echter Vorteil. Bloß, ich bin nicht geduldig. Ich will wissen, weshalb unsere schöne warme Decke weggeweht wurde; ob gerade eine neue entsteht, oder ob die augenblickliche Kälte anhalten wird.
Okay, es kann sein, ich bin einfach nur verrückt. Da bringt mir einer ein Frühstück vorbei, und ich überlege, warum er sich innerlich so plötzlich von mir distanziert hat. Aber ich weiß doch, wie sich etwas anfühlt; es zählen eben nicht nur die Taten, sondern auch die Absichten dahinter. Deinar ist nicht gekommen, um den kleinen Riss zwischen uns zu reparieren, sondern um alles auf eine andere Schiene zu stellen.
Nun, soll er doch. Ich hatte ohnehin längst konstatiert, ich brauche keinen Mann in meinem Leben. Und wenn das, was mich anfangs so sehr angezogen hat an ihm, so wenig dauerhaft ist, kann ich mich freuen, nicht von einem höheren Punkt der Vertrautheit abgestürzt zu sein.
Um einmal konkreter zu werden: Es gibt keine neue Verabredung zwischen uns, und die alte, die die ganze Zeit gestrahlt hat wie eine Sonne, die von Donnerstag Morgen, die ist dahin. Jetzt ist es an mir zu entscheiden, ob ich es dabei belasse oder aktiv werde.
Nein, ich werde nicht. Ich habe genug von Irrungen und Wirrungen. Was nicht klar ist und durchschaubar und verständlich, das soll gefälligst erst einmal draußen bleiben aus meinem Leben.
Na glänzend – dann ist ja alles geregelt.
Ich werde Deinar also nicht im Laufe des Tages anrufen, ihn zu irgendetwas einladen oder irgendetwas fragen, ich werde ihn nicht abends im Blatt besuchen, und ich werde auch sonst nichts unternehmen. Punktum.
Ich frage mich nur, weshalb mich der späte Abend dann doch auf dem mittlerweile bekannten Weg wiederfindet, harmlos ein Lied im Radio mitpfeifend, unschuldig an nichts denkend …
Zuerst erschrecke ich ein wenig, als ich nach dem Aussteigen die Fassade hochsehe; es sieht alles so dunkel und verlassen aus. Schnell stellt sich das jedoch als optische Täuschung heraus, es brennt sehr wohl Licht in den Räumen. Hoffentlich sind nicht mehr allzu viele Mitarbeiter da; dass ich ihn vorfinden werde, daran habe ich keinerlei Zweifel. Auf Zuschauer lege ich allerdings keinen gesteigerten Wert. Andererseits – meinetwegen. Wenn es sein muss, dann entführe ich ihn eben, um ihn allein sprechen zu können.
Trotzdem fühle ich mich ein wenig zittrig beim Treppensteigen. Wäre das Ganze ein Film, würde ich meinen Angebeteten todsicher in den Armen einer anderen Frau überraschen. Na, hoffen wir, dass das ach, so realistische, graubunte Leben sich eine andere Überraschung ausgedacht hat.
Die Tür steht sperrangelweit offen, als wolle einer gleich flüchten, oder als erwarte man hochherrschaftlichen Besuch. Den kriegt man ja nun auch.
Da ist Deinar in der Tat, und in den Armen hält er keine Frau, sondern ein anscheinend widerspenstiges Faxgerät, und statt Liebeslauten ist ein raues Fluchen zu hören, das jedem Marlboromann Ehre machen würde.
Er hat mich noch nicht bemerkt, und ich nutze das ganz gemein aus und schleiche mich an. Der Schuhindustrie sei Dank für Gummisohlen. Zum Glück fehlen die Zuschauer; oder sind auf dem Klo; sonst könnte man mich glatt für einen Einbrecher halten. „Kann ich dir helfen?“ bemerke ich freundlich, als ich direkt hinter ihm stehe.
Er fährt herum – und das Faxgerät landet krachend auf dem Boden. „Oh,“ säusele ich bedauernd, „ich fürchte, das kann ich auch nicht mehr reparieren.“
Endlich sagt auch Deinar etwas. „Verdammte Scheiße!“ Eine nette Begrüßung! „Störe ich? Ich kann auch wieder gehen.“ „Nein, Himmel – verflucht! Ich meine …“ Er hebt die Arme. „Schön, dich einmal um Worte verlegen zu sehen,“ entgegne ich. Langsam muss ich mir auf die Lippen beißen, um nicht laut loszuplatzen. Mit meinem Überfall ist es mir gelungen, ihn gründlich durcheinander zu bringen, und das kleine Teufelchen in mir genießt das in vollen Zügen. „Willst du die arme kleine Maschine nicht langsam mal wieder aufheben?“
Schwungvoll bückt sich Deinar, und ebenso schwungvoll landet die angeschlagene Technik auf dem nächsten Schreibtisch. „Ich muss dringend noch ein Fax losjagen, aber es ist nichts zu machen. Es funktioniert nicht. Gleich morgen lasse ich ein neues besorgen.“
„Mondheim hat doch bestimmt noch mehrere Faxgeräte in erreichbarer Nähe,“ schlage ich vor. „Wo ist denn das nächste?“
„In meiner Wohnung,“ antwortet Deinar und sieht mich herausfordernd an. „Dann lass uns mal aufbrechen. Ein unsittlicher Antrag ist das sicher nicht, den du mir damit gemacht hast – also, bringen wir die Pflicht hinter uns, und dann gehen wir essen. Obwohl – eigentlich wird es ja wirklich langsam Zeit für den unsittlichen Antrag. Zumal wir nicht mehr befürchten müssen, damit den ganzen Laden hier in Aufruhr zu versetzen.“
So – das war jetzt aber deutlich genug. Weiter werde ich ihm nicht entgegenkommen. Eher lasse ich mich schlagen; und ob er das schon weiß oder nicht, ich bin keine Masochistin.
Noch immer starrt Deinar mich an, als sei ich ein Wesen von einem anderen Stern. Eine kleine Prinzessin vielleicht. „Ich dachte schon, du willst nichts mehr wissen von mir.“
„Ach ja? Und aus Angst davor benimmst du dich gleich so, als wolltest du von mir nichts mehr wissen?“
Wieder hebt er hilflos die Arme. „Aber wieso – ich habe dir doch heute Morgen noch das gewünschte Frühstück vorbeigebracht!“ Aha, man spielt also den Unschuldigen. Oder doch nicht?
„Ach, was,“ ergänzt er, „ich weiß schon, was du meinst. Ja, du hast recht.“