Er will, er will nicht …

29. September 2012

„Wie wäre es mit einem Kaffee? Gleich um die Ecke ist ein Laden, da bin ich öfter. Der Espresso ist ganz gut.“ Was? Ist das alles, was ihm einfällt zu meiner Schimpftirade? Typisch – kaum wird es ein bisschen heiß, schon lenkt man einfach ab. Begibt sich auf ein Terrain, auf dem man wieder den vollendeten Alphaherrscher spielen kann. Tür aufhalten, vorgehen lassen und das ganze Brimbamborium. Nicht dass ich solche Gesten nicht mag; sie begeistern mich immer. Wenn sie nicht gerade der dezente Hinweis auf meine eigene Unwichtigkeit oder Hilflosigkeit sind.

Natürlich kann ich mir selbst die Tür öffnen; und im Restaurant ist es mir sogar lieber, als zweites einzutreten. Wer wirklich etwas von Höflichkeitsformen versteht, berücksichtigt das auch. Es geht doch nicht darum, dass jemand meiner Schwäche zu Hilfe kommt. Sondern um ein Zeichen von Rücksichtnahme; um Fürsorge, die umso liebevoller dargeboten wird, je weniger sie wirklich erforderlich ist. Der alte Traum, auf Händen getragen zu werden, obwohl man gut selbst laufen kann. Weil die ganze Geste sonst nichts anderes wäre als eine soziale Notwendigkeit. Nicht, dass so viele Leute tatsächlich ein soziales Gewissen haben.

Jedenfalls, ich brauche keinen Krückstock zum Abstützen, sondern einen elegant verpackten, muskulösen Arm zum Einhaken als Symbol größerer Nähe und Verbundenheit.

Völlig blödsinnig, diese Vorstellung. Schön, aber nicht realisierbar. Allerdings auch nicht dämlicher, als von blonden, großtittigen Weibern in Spitzenunterwäsche mit hohen Absätzen zu fantasieren, die stets willig sind und alles mitmachen. Was den Pornos recht ist, ist mir ja nun billig.

So, und wenn ich schon so schön intern toben kann, weshalb bin ich dann trotzdem versucht, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und sein Ablenkungsmanöver durchgehen zu lassen? Warum liegt es mir auf der Zunge, ja zu sagen und alles andere herunterzuschlucken? Wer die Bronzestatue stützt, sollte sich nicht wundern, wenn sie einen beherrscht. Ich hole tief Luft. Nein, ich spiele das Spiel nach seinen Regeln nicht mit. Außerdem, draußen kann ich ihm notfalls doch noch eine kleben; im Café ist das irgendwie etwas schwierig.

„Lenk nicht ab,“ sage ich böse. Schon klasse, der Übergang zum du. Das hebt manche Hemmung wie von selbst auf. „Ich habe keine Lust auf Kaffee; ich will, dass wir die Dinge klären.“

Er seufzt. „Das will ich auch. Und Lust auf Kaffee habe ich ebenfalls nicht. Aber schließlich kann ich dich ja nicht so einfach übergangslos in meine Wohnung einladen.“

Das ist auch mal eine Methode, Kritik abzuwehren. Man macht deutlich, dass man eigentlich Lust auf Sex hat, die Umgangsformen aber ein wenig Geplänkel zuvor erfordern. Ein kleines Kästchen für die Vorgeschichte, ein noch kleineres für das Vorspiel, ein großes für die Hauptsache – und das größte für das eigentliche Leben, das danach weiter geht, als sei nichts gewesen.

Wie verhält sich jetzt die Frau von Welt?

Keine Ahnung; ich bin keine. Ich bin nur eine ganz normale, und ich bin stinksauer; und eine Sache, eine einzige Sache bloß an dieser ganzen verkorksten Situation gibt es, die habe ich in der Hand – da kann mir keiner mit Manipulationen oder Befehlen dazwischenfunken, mit bequemen Konventionen oder komplizierten Diskussionen: Den Abgang. Und einen solchen wollte ich schon immer mal haben.

„Fick dich selbst,“ verkünde ich laut und vernehmlich, drehe mich um – und gehe.

***

Ich fühle mich gleichzeitig total beschissen und absolut großartig befreit.

Ist es nicht immer so, dass man zum Sklaven eines anderen Menschen und der Umstände wird, wenn man sich verliebt hat? Da ist erst einmal der Wunsch, sich selbst möglichst positiv darzustellen. Mehr Sorgfalt, was die Kleidung betrifft, mehr Überlegung in jedem Wort, jeder Geste. Dann der Wunsch, den wunderbaren Angebeteten so wunderbar zu erhalten, wie er zuerst im Kopf auftauchte; eine manchmal nicht geringe Anstrengung, die einiges an internen Diskussionen erfordert, bis dieses seltsame flatternde Gefühl im Bauch ja sowieso Recht behält und den Sieg davonträgt. Wer auf Logik und Verstand nichts gibt, lebt einfach unbekümmerter. Und hinzu kommen das Bestreben, möglichst viele Begegnungen herbeizuführen; die ständige Angst vor der Nicht-Erwiderung des Schwindelgefühls der zitterigen Knie, die jeden hingeworfenen Satz des anderen 20 Mal umdreht, begutachtet, interpretiert. Acht Mal in dem Verdacht, er enthalte eine heimliche Absage, und zwölf Mal in dem Versuch, eine heimliche Liebeserklärung herauszulesen. Welche Seite gewinnt ist klar; so leicht lässt sich der kleine Teufel verknallt Sein nicht verscheuchen.

So geht das ein paar Tage, Wochen, Monate lang. Bis man das erste Mal aktiv wird und eine der vielen kleinen Dummheiten organisiert, die den Verliebten begleiten, bis er eine definitive Antwort erhält. Eigentlich unnötige Anrufe, „zufälliges“ Wegekreuzen, verschobene Mittagspausen, ach, so dringende Wege (an ihm vorbei), die mit klopfendem Herzen erledigt werden.

Wenn die Antwort definitiv da ist – leise Andeutungen reichen in diesem Zusammenhang nicht aus – und negativ ausfällt, beginnt der lange Prozess der Loslösung – der bei einem puren Traumbild auch nicht viel einfacher ist als bei einer echten Person; schließlich unterstützen Träume die Trennung nicht durch Mundgeruch, schlechtes Benehmen und böse Blicke.

Wehe aber, die erste Antwort ist positiv! Dann geht es los mit der Zweiseitigkeit. Auf einmal ist man nicht mehr allein, sondern ein anderer Mensch drängt sich machtvoll ins eigene Leben, und man selbst in seines. Man muss sich wirklich kennen lernen, sich aneinander gewöhnen, die vielen, vielen kleinen Nadelstiche des Unverständnisses abfedern. Alles verändert sich. Solange die rosarote Brille da ist, übersteht man das auf Wolkenkissen und geflügelten Füßen. Bloß, auch der blindeste Brillenträger nimmt das Teil manchmal ab, und dann wird es haarig. Dagegen ist die Zeit der Einseitigkeit vorher mit ihrer Angst ein beglückender Spaziergang.

Zusammengefasst: Mein Leben gehört nicht mehr mir, sobald ich mich verknallt habe. Aus diesen Entwicklungen einfach aussteigen hat wirklich etwas für sich. Ist es nicht ohnehin so, wenn ich allein bin, sehne ich mich nach einem Partner, und habe ich einen, vermisse ich die Singlezeit? Also ist es doch relativ egal, ob ich die Ergänzung meines Selbst finde oder nicht, denn das, was ich davon erwarte, das zaubert ohnehin niemand herbei.

Schluss damit. Ich will ihn nicht, den Herrn Chefredakteur; selbst wenn er sich jetzt auf einem Silbertablett selbst servieren sollte – und damit ist kaum zu rechnen.

Wie ein leiser Triumph schleicht sich Gewissheit in mein Gehirn, dass er sehr wohl etwas an mir findet und in mir sieht. Sonst hätte er nicht dieses bodenlose Theater heute Abend veranstaltet, erst mit der vorgetäuschten Freundin, und dann, indem er den Chef herauskehrt. Auch wenn manche Chefs sich einbilden, sie besäßen einen vollständig, nicht nur am Arbeitsplatz – es ist gar nicht schlecht, sie einmal sehr deutlich darüber aufzuklären, dass sie sich insofern täuschen.

Ich gebe zu, etwas weniger gossenhaft hätte ich mich schon verabschieden können. Andererseits, ich bin immer für Klarheit, und dafür ist so ein Satz genau das Richtige.

Soll er damit nach Hause marschieren statt mit mir. Ist erheblich einfacher, und an Befriedigung wird es dennoch nicht fehlen. Sich einen runterholen wird er ohnehin nachher, oder gibt es einen Mann, der das nicht täglich tut? Interessant wäre allenfalls herauszufinden, was er sich dabei vorstellt. Falls das über in Nebel gehüllte marionettenhafte Körperteile herausgeht. Ach, egal – geht mich nichts an. Ich muss jetzt bloß noch die Peinlichkeiten eines verkorksten Halbantrags in den nächsten Tagen danach überstehen. Aber da kann ich mich bestimmt auf seine übliche Berufssteifheit verlassen. Der Typ wird alles tun, sich nicht an diesen Abend zu erinnern, der für ihn selbst ja auch nicht gerade glorreich verlaufen ist. Das hilft mir ebenfalls.

Kaum vorstellbar – vorbei mit der ständigen Angst, mich vor ihm zu blamieren, vorbei mit den erschrockenen Gedanken, ob mein Haar auch sitzt, der Mascara streifenfrei bleibt, meine Bewegungen feminin sind und lasziv. Vorbei damit, dass sich ständig alles um ihn dreht. Ist doch ohnehin nur eine Ausrede dafür, sich so lange wie möglich gut fühlen zu können in der Sonne der irrealen Vernarrtheit. Wofür machen wir denn den ganzen Aufstand? Doch nicht für den Gegenstand unserer Verehrung, der das oft genug gar nicht mitbekommt, sondern für uns selbst. Es gibt nun einmal nichts, was den Schritt so federnd macht wie verliebt zu sein. Wohlgemerkt, in der allerersten Zeit. Alles andere wird nur angestellt, um diesen wunderbaren Zustand der Besoffenheit so weit wie möglich zu verlängern. Hormonalkohol macht schon einen Klasserausch. Prima – aber sobald man zwischendurch kurz nüchtern ist und sieht, wie das Gefühl zu einer chaotischen Belastung wird, ist es Zeit, es abzuschaffen.

So schön hingebungsvoll wird Philipp ohnehin nie seufzen wie in meiner Einbildungskraft.


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