Gekündigt
Kaum stehe ich ihm gegenüber, nach ein wenig Spießrutenlaufen bei den wenigen Kollegen, die um diese Zeit noch am Arbeitsplatz sind und mir mit einer Mischung aus Schadenfreude, Angst um die eigene Position und verwässertem Mitleid begegnen, ist all meine Entschlossenheit dahin. Mir werden die Knie weich, ich möchte ihm am liebsten um den Hals fallen. Die ganzen Probleme sind auf einmal überhaupt nicht mehr wichtig. Vergebens versuche ich, mich an den festen Vorsatz zu erinnern, mich von meinen Gefühlen ihm gegenüber zu lösen. Er besteht aus nichts als Worten, die angesichts der emotionalen Realität zu Staub werden.
Kaum tauche ich in der Tür auf, erhebt er sich hinter seinem Chefschreibtisch und kommt mir auf halbem Weg entgegen. Er streckt die Hand aus – ganz ungewöhnlich; auf Handschlag wird hier meistens verzichtet -, ich reiche ihm meine, die er nimmt, näher zu sich heranzieht, und schon hat er erst meinen Arm umfasst, dann meine Schulter, und endlich, endlich! spüre ich, wie das ist, von ihm umarmt zu werden.
Zunächst hängen meine eigenen Arme noch wie Stöcke herab, aber rasch probieren sie die neue Position aus, sich um seine Taille zu schleichen und dort zu verharren.
Irgendwo ist ein Herzschlag in meinen Ohren; regelmäßig, aber sehr schnell. Ist es meiner? Ist es seiner?
Dieser Augenblick könnte meinetwegen ewig dauern.
Auf einmal bin ich froh über die ganzen Verwicklungen. Wenn etwas im Leben aufbricht, verändern sich damit auch die Regeln für das Verhalten; manchmal ist das eine Chance. Würde man nicht so gemein versuchen, mich abzusägen, hätte er wohl kaum in so kurzer Zeit die strikte physische Barriere zwischen uns überwunden.
Es gibt keinen Kuss, kein Aneinanderpressen; wir halten nur fest – den anderen, und einander an ihm.
„Wie geht es dir?“ fragt er schließlich sehr leise, räuspert sich danach und wiederholt die Worte lauter. Schon merke ich, wie er innerlich bereits wieder ein wenig zurückweicht, sich zur Ordnung ruft. Es gehört sich eben nicht, sich zu sehr auf mich einzulassen. Nicht als mein Chef.
Ich nehme ihm die Arbeit der Loslösung ab, trete einen halben Schritt zurück. Er deutet auf einen Stuhl, lehnt sich vor mir im Stehen gegen seinen Schreibtisch. Wenn ich mich jetzt hinsetze, muss ich zu ihm aufschauen. Ist es Absicht, diese Anordnung? Dann wäre mir fast die Trennung per Wichtigkeitsschreibtisch lieber. Aber was bleibt mir anderes übrig, ich setze mich. Viele Sekunden lang summt das Schweigen im Raum; er sucht anscheinend ebenso nach Anfangsworten wie ich. Ich könnte ihm ja jetzt sagen, dass ich ihn gerne mag. Könnte fragen, warum in den letzten Tagen soviel schiefgegangen ist. Nur, ich glaube nicht, dass er dazu etwas sagen will und sagen wird.
Es geschieht etwas Seltsames, das ich auch aus anderen kritischen Situationen her kenne – es sind noch nicht einmal zwei volle Tage, seit das Damokles-Schwert gefallen ist, und trotzdem kommt es mir so vor, als lebe ich bereits seit ewigen Zeiten in dieser Vorhölle. Ein erstes Zeichen der Gewöhnung? Wir werden es sehen. Vielleicht auch nur die Ruhe vor dem Realisationssturm.
Warum lasse ich mich eigentlich so schnell durch seine pure Anwesenheit aus dem Konzept bringen? Ich bin gekommen mit der eisernen Absicht, die praktischen Dinge zu klären. Artikelkorrekturen, Geschichtenkonzept, Vertragsgestaltung. Ich weiß, dass man sich mir gegenüber schofel verhält, und wenn ich auch nicht darauf bestehen kann, dass mein Arbeitgeber anständig wird im Sinne von großzügig, so kann ich doch auf vernünftige Regelungen für die neue Situation pochen. Genau das wollte ich tun; kein privates Wort, kein Gejammer, einfach zack, zack, zack, die Punkte aufzählen, die zu besprechen sind, meine Forderungen in den Raum stellen. Ich hatte mir auf der zugegeben kurzen Fahrt hierher sogar bereits meine Einleitungssätze überlegt.
Nun, versuchen wir es doch einmal mit denen; Philipp scheint ja nichts einzufallen, womit man die Verhandlungsrunde eröffnen könnte. „Ich denke,“ beginne ich und muss mich ebenfalls erst einmal räuspern, bevor ich weitersprechen kann, „ich denke, wir beginnen mit den einfacheren Dingen, also den Korrekturen der zwei Artikel für die neue Ausgabe, dann erzählen Sie mir, wie das alles in Zukunft aussehen soll mit meiner Arbeit, und für den Schluss heben wir uns mein Grobkonzept der Fortsetzungsgeschichte auf.“
„Wieso bist du denn jetzt wieder beim Sie?“ fragt er. Nicht empört – eher sanft. Ich richte mir auf. „Weil es mir einfach passender erscheint!“ Was interessiert mich das, was ich ihm das letzte Mal an den Kopf geworfen habe, von wegen du oder Sie. Heute ist heute, und heute sage ich das so, wie ich es heute empfinde und nicht, wie ich es gestern oder gar früher empfunden habe.
Er zuckt die Achseln. „Wenn Ihnen das lieber ist – meinetwegen.“ Schon ist er wieder so distanziert, als habe es die Umarmung vorhin nie gegeben. „Also?“
Das „Also“ verwirrt mich. „Was wollen Sie von mir hören? Sie hatten Vorschläge für die Artikelkorrekturen. Ich höre Ihnen gerne zu.“
Dass Vorgesetzte immer mit so vielen psychologischen Tricks arbeiten müssen! Womöglich ist er nur unsicher, der Gedanke kommt mir durchaus. Aber er wird sofort wieder verworfen. Nein, es kann einfach nicht schlichte Unsicherheit sein, die sich hinter soviel durchdringender Autorität versteckt – es muss ein Trick sein. Bloß, was will er damit erreichen? Ich weiß es nicht. Es ist mir auch egal. Plötzlich kehren machtvoll meine Absichten zurück, mich hier nicht herunterputzen zu lassen, sondern auf klaren Vorgaben zu bestehen und mit echten Informationen die Redaktion wieder zu verlassen. Gute Vorsätze sind halt doch treue Freunde; auch wenn sie sich ab und zu eine hormonbedingte Auszeit nehmen.
Er verschränkt die Arme. „Ja nun,“ sagt er gedehnt. „Es gibt da ein Problem.“ Mir wird ganz anders unterhalb meiner Brust. Es kann ja wohl nicht sein, dass die Herren von oben noch mehr an Kampfhandlungen vorbereitet haben. Als ob ich nicht schon besiegt genug wäre. Siedendheiß fällt mir mein im Nachhinein nicht gerade überintelligenter Schachzug des Auftauchens bei Meisig ein, den mein Kopf fast erfolgreich verdrängt hätte. Ob er sauer war deswegen? Und nun darauf besteht, dass man mit so grässlichen Subjekten wie mir überhaupt nichts mehr zu tun hat?
Ein nettes Wechselbad ist das, was ein sadistischer Experimentierengel im irdischen Labor in den letzten Tagen für mich vorbereitet hat.
„Was für ein Problem?“ entgegne ich entnervt. Irgendein inneres Gefühl sagt mir zwar, die Sache ist ernst, noch viel ernster, als bisher von mir angenommen – aber so leicht lasse ich mich auch nicht entmutigen; dann tue ich lieber so, als sei ich die Erwachsene und er das Kindergartenkind. Er wird die Rollen ohnehin rasch wieder tauschen und vom Kindergartenkind zum Kindergartenking. „Gestern bei unserem Telefonat war doch noch alles klar – zumindest was die beiden Artikel betrifft.“
Er windet sich innerlich und überdeckt das nach außen, indem er mit einem Fussel auf seiner dunklen Anzugshose spielt. „Nun ja, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll … Es ist so, bis zum heutigen Tag war ich selbst nicht vollständig informiert.“ Pause. Scheint ja ein ziemlicher Hammer zu sein, den er auf meinen Zehen niederlassen will, wenn es ihm so schwer fällt, ihn hervorzukramen. „Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass der gesamte Erotikbereich im Magazin umstrukturiert wird. Dass man sich aus Imagegründen entschließt, die Sachartikel mit sexuellem Hintergrund ein wenig zurückzunehmen.“
Viel komplizierter kann man das kaum ausdrücken, dass die Geschäftsleitung sich der Erotikmieze schämt und sie abschaffen will.
„Natürlich sollte es eine Übergangsphase geben; kein Markenprodukt wie unseres übersteht einen abrupten Wandel ohne Schaden. Deshalb hatte ich mir vorgestellt, es gibt noch ein paar weitere Wochen lang deine Artikel,“ – aha, schon rutscht er wieder ins du – „und man lässt es dann eben auslaufen. Als Entschädigung für dich war diese Fortsetzungsgeschichte gedacht. Wenn die gut ist, kann man sie als Literatur verkaufen und auf diese Weise den langsamen Imageumschwung herbeiführen. Je nach Erfolg war es sogar angedacht, nach der ersten Geschichte weitere folgen zu lassen.“
Die Vergangenheitsform in seiner Rede lässt nichts Gutes ahnen. Okay – wenn es denn eh nichts hilft, will ich es auch wissen, was kommt. Die Weitschweifigkeit seiner Erklärung geht mir auf den Senkel, und so unterbreche ich ihn rüde. „Auf den Punkt bitte!“
Er holt tief Luft, verlagert zweimal das Gewicht. „Ja, also – es ist so, das war der Stand gestern Abend. Heute Morgen allerdings hatte ich ein langes Gespräch mit den beiden Geschäftsführern, und dort hat man mir dann die Pläne, die man hat, vollständig aufgedeckt.“
Aha – jetzt kommt es gleich; die einzig wichtige Aussage in seinem Geschwafel. Alles andere war nur Rückzugsgefecht, Ablenkung und Selbstverteidigung.
„Man hat die ganze Sache nochmals gründlich überlegt und ist zu dem Schluss gekommen, dass deine Kolumnen nicht eingestellt werden. Image hin oder her – es sind einfach beliebte Seiten in unserem Magazin, und viele unserer Abonnenten würden uns das bestimmt sehr übel nehmen, wenn wir hier eine völlig überraschende Änderung vornehmen.“
Na oberaffenklasse – dann ist doch alles klar, oder? Ich kehre zurück in den Schoss der Firma, schreibe mein Zeug wie gehabt, und zusätzlich noch diese Geschichte. Das wird schon irgendwie unter einen Hut zu bringen sein; ich bin ja zum Glück schnell.
Bloß, warum macht Philipp so ein schuldbewusstes Gesicht? Das sieht nicht danach aus, als würde er mir gleich die freudige Nachricht übermitteln, das ganze Hickhack gestern und heute sei nur ein bedauerlicher Irrtum gewesen und der Alptraum nun vorbei.
„Und wo ist der Haken?“ forsche ich. „Es wird weiterhin meine Kolumnen geben, damit ist doch alles in Butter. Kein Abschied für die Erotikmieze – wunderbar. Stellt sich nur noch die Frage, was nun aus der angedachten Geschichte wird.“
Er schüttelt den Kopf. „Die wird es nicht geben.“
Kein Fortsetzungsroman? Schade! Obwohl diese Idee mich nicht lange begleitet hat, fällt mir der Abschied von ihr doch schwer. Ich hatte gerade begonnen, mich mit dem Gedanken abzufinden, in Zukunft wenigstens zwischendurch immer wieder einmal Belletristik schreiben zu können statt reinen Sachtexte. Auch wenn es sich über die literarische Qualität der geplanten Belle garantiert trefflich streiten lässt. Es hatte mir einfach gefallen, einen Schritt mehr in Richtung Schriftsteller zu gehen. Gibt es jemanden, dem das nicht ebenso gegangen wäre? Na also – wir sind doch alle in den heimlichen Schreiberling in uns verliebt.
Ich räuspere mich erneut. „In Ordnung. Das ist zwar nicht sehr schön – aber auf der anderen Seite, der Plan bestand ja ohnehin erst seit gestern. Das werde ich schon verkraften. Obwohl mir das gut gefallen hätte, diese Geschichte zu schreiben. Immerhin sind die restlichen Probleme dann beseitigt.“
Er reagiert nicht auf meinen lockeren Ton. Er sagt gar nichts; mindestens eine halbe Minute lang. Gerade will ich fragen, was denn los ist, da macht er doch endlich den Mund auf. Und, ganz seltsam, noch bevor er die Worte herausgebracht hat, sehe ich sie auf einmal glasklar vor mir wie in einer Kristallkugel.
„Da ist noch etwas. Die Kolumnen werden bleiben, aber betreuen wird sie jemand anderes. Dein Nachfolger.“