Ich schreie
Danach stürze ich zurück an mein Notebook. Was für ein wundervolles Gerät!
Ich habe ihm noch gar nicht genug gedankt dafür. Wie großzügig er ist, wie fürsorglich. Und wie zielstrebig er in immer mehr Bereiche meines Lebens vordringt, eindringt. Ich bemerke das durchaus, diesen Teilhintergrund seiner Großzügigkeit und Fürsorge.
Wann immer ich nun unterwegs sein werde und am Laptop arbeite, wird das ganz eng mit ihm verbunden sein. Ganz anders als bei meinem, eigentlich seinem kühlen Rechner im Büro. Obwohl Hefner sich damit gewiss nicht weniger Mühe gegeben hat. Aber da hat Mondheim sich nicht so persönlich eingemischt.
Es gefällt mir, wie unsere Lebensfäden sich mehr und mehr miteinander verweben. Schließlich dringe ich ja nicht weniger in sein Leben ein. Meine Zahnbürste neben seiner, mein T-Shirt auf seinem Kissen, das ist nur vorübergehend. Aber glauben Sie, er wird so schnell wieder in seinem Bad stehen können, ohne an mich zu denken?
Fürs Arbeiten bin ich letztlich doch zu unruhig. Wenn ich bloß etwas tun könnte, was Deinar betrifft. Ihn anrufen – ja, fein, und ihn damit vorwarnen, dass Mondheim Bescheid weiß und Daniel damit vielleicht die einzige Waffe wegnehmen, die er hat.
Sie fragen sich, ob es mich überhaupt nicht stört, dass er gewisse illegale Dinge macht? Sie warten auf meine moralische Empörung, meine entrüstete Distanzierung? Da können Sie lange warten. Oder auch: get stuffed.
Es ist nicht einmal mein Wissen darum, in den meisten Firmen läuft irgendetwas, das etliche treue Gesetzeshüter oder solche, die sich dafür halten, mit einem erhobenen Zeigefinger, einer Hausdurchsuchung oder sonstwas quittieren würden, was mich schweigen lässt. Das ist ja so; Leugnen zwecklos. Die Dinge sind vielleicht mehr oder weniger umfangreich, mehr oder weniger gravierend, mehr oder weniger schlimm, aber da sind sie fast überall. Haben Sie noch nie die Briefmarke für einen privaten Brief dem Finanzamt aufs Auge gedrückt? Am Arbeitsplatz einen Block mitgehen lassen? Na also.
Ich kann gerne auch gegen den schleichenden Sittenverfall anstänkern. Je weiter unten man in der Nahrungskette steht, desto weniger Möglichkeiten hat man, durch kleine Tricks mehr herauszuholen. Und desto weniger bedeutet die legale Reinheit, da sie ja vorwiegend aus Mangel an Gelegenheit entsteht.
Bis es über die Grenze geht, die für jeden anderswo verläuft. Die Grenze, hinter der der Mensch anfängt, ein kleines bisschen weniger Mensch zu sein, weil man ihm zuviel weggenommen hat. Viel zu viele Menschen gibt es inzwischen bei uns, denen man zuviel weggenommen hat. Erst den Arbeitsplatz, dann einen Teil der Arbeitslosenhilfe, dann die Fördermöglichkeiten, und nun auch noch alles, was er sich in seinem Leben aufgebaut hat, denn nur wer gar nichts mehr hat außer dem nackten Leben, für den ist der Staat zuständig; und das auch nur vielleicht. Recht bald geht dabei die Selbstachtung zum Teufel, wenn jemandem zum hundertsten Mal behördlicherseits erklärt worden ist, dass man nichts für ihn tun kann, weil es keine Arbeit gibt, während alle Bekannten so großartig verkünden, es findet jeder einen Job, der das nur will.
Dann wird es wieder gefährlich, wenn man einen Menschen so in die Enge getrieben hat. Dann sucht er nach Mitteln, sich zu wehren; auch unanständigen. Und die Unanständigkeit in solchen Situationen, die ist doch moralisch gesehen auch gar nicht unanständig. Ihm bleibt ja gar nichts anderes mehr übrig, wenn er nicht ganz abgleiten will ins Nichts der bürokrativen Verwaltungsleiche, die leider real noch nicht tot ist, sonst wäre es so viel billiger und soviel weniger Aufstand.
Ich sehe das so – das ist pure Verteidigungsunanständigkeit, in einer solchen Situation zu unerlaubten Tricks zu greifen. Notwendig zur Selbstverteidigung, zum Überleben mit wenigstens Resten an Menschenwürde.
Und dann gibt es die Angriffsunanständigkeit, die lediglich aus einer ohnehin guten Lage eine bessere macht. Die ist nicht mehr, sondern weit weniger ehrenhaft.
Und trotzdem ist sie anerkannt, toleriert, gehört dazu zum Leben; während die anderen als Sozialschmarotzer an den Rand gestellt werden.
Soweit zu meiner allgemeinen Meinung in diesen Dingen.
Aber soll mich das jetzt stören, wenn jemand das allgemeine Ungleichgewicht in der Anerkennung der einen oder der anderen Form der Unanständigkeit zu seinem Vorteil ausnutzt?
Und was diskutiere ich überhaupt – ich bin doppelt inkonsequent. Ich bin nicht nur nicht auf dem Kreuzzug gegen kleine Schlampereien am Rand des Gesetzes und darüber hinaus, obwohl ich die Ungerechtigkeit in der Auffassung durchaus sehe, die das den einen erlaubt und den anderen böse ankreidet. Solange es Mondheim betrifft, ausgerechnet ihn, werden Sie mich eher dabei erleben, dass ich ihm helfe, als dass ich ihm die reine Lehre von den sauberen Geschäften vorpredige.
Aber Anstand ist nicht, dem Finanzamt gegenüber in jedem Cent ehrlich sein. Anstand ist anders. Anstand ist, wie man mit anderen Menschen umgeht. Und wenn letzteres stimmt, dann ist mir ersteres weitgehend schnuppe.
Zumindest, solange gewisse Toleranzgrenzen nicht überschritten werden. Ich muss da nur an Refring denken und kriege das Kotzen. Das ist kein kleiner Beschiss mehr, was er gemacht hat, das war Betrug im großen Stil, bei dem auch Menschen draufgegangen sind; finanziell zumindest, und stellen Sie sich Ihr Leben ohne Ihre ganz höchstpersönliche Finanzdecke vor. Was bleibt noch übrig, wenn die weg ist?
Sie finden meine flammende Verteidigungsrede nicht sehr gelungen? Macht nichts – ich auch nicht. Aber das ändert nichts.
Was auch immer Mondheim angestellt hat, worauf Deinar ihm gekommen ist – ich werde alles tun, was ich kann, damit er da heile wieder rauskommt.
Falls ich überhaupt etwas tun kann.
Die Hoffmann klopft, meldet sich zurück mit den Tabletten und fragt, ob sie noch etwas für mich tun kann.
Mir fällt tatsächlich etwas ein. Wenn sie mich jetzt zu meiner Wohnung fährt, dann kann ich ein bisschen Kram einpacken und nach der Post sehen und muss nicht nachher Mondheim die Zeit dafür stehlen. Außerdem könnte ich mit meinem eigenen Wagen zurückkehren und wäre so unabhängiger.
Das mit meinen Klamotten sieht sie ein und ist auch bereit zu helfen. „Aber das mit Ihrem Auto lassen Sie man schön,“ erklärt sie mir energisch. „Mondheim hat gesagt, Sie dürfen noch nicht fahren, und dabei bleibt es. Ich warte solange und nehme Sie wieder mit.“ „Dr. Teermann hat kein Wort davon gesagt, dass ich nicht fahren darf,“ wende ich ein. „Dann ist das schlimm genug,“ pariert sie meinen Einwand. „Seien Sie doch vernünftig! Selbst wenn es eigentlich ginge – wer weiß, ob Ihnen nicht eine kleine schmerzhafte Bewegung die Konzentration nimmt. Oder Sie unterlassen eben diese Bewegung aus Angst vor dem Schmerz, und schon ist es passiert.“
Ich gebe es ungern zu, doch sie hat mich überzeugt. Also trapsen wir gemeinsam los und kommen gemeinsam zurück.
Meinen eigenen Rasierer habe ich jetzt auch dabei. Und meinen schwarzen Body. Schlicht, ganz ohne Spitze und solchen Schnickschnack, aber er glänzt so schön, und fühlt sich ganz weich an. Man weiß ja nie.
Erst einmal werden wir ja wohl kaum zu etwas kommen, wo man den gebrauchen kann, aber sicherheitshalber schlüpfe ich trotzdem heimlich hinein. Ach ja, ein Kleid habe ich auch eingepackt. Ist doch zu dämlich, wenn der Herr und Meister die Sub aus profanen Jeans herausschälen muss, bevor er ihr den Hintern versohlt.
Ab sechs Uhr warte ich eigentlich nur noch und habe jeden Anschein aufgegeben, etwas anderes zu tun. Zu schade, dass man die Zufahrt von hier aus nicht sehen kann. Ob ich hinuntergehe? Nur, was soll ich dann da?
Trotzdem, es jagt mich nach unten. Die Hoffmann steckt den Kopf aus der Küche. (Wann macht sie eigentlich Feierabend, frage ich mich?) „Sie können ruhig ins Wohnzimmer gehen. Mondheim wird ja wohl bald da sein. Fein haben Sie sich gemacht für ihn. Ist doch viel schöner im Kleid. Dass ihr jungen Dinger unbedingt immer diese grässlichen amerikanischen Hosen anziehen müsst!“ Ich muss lachen. „Ich bin 33, Frau Hoffmann, und bestimmt kein junges Ding mehr.“ „33,“ schnaubt sie. „Wissen Sie, wie alt ich bin? 58! Genau fünf Jahre älter als Mondheim. Und da erzählen Sie mir noch mal, Sie seien kein junges Ding mehr!“
Das Wohnzimmer wirkt furchtbar groß und leer und kalt. Ruhelos wandere ich darin umher, mag mich nicht einmal setzen. Zehn nach sechs ist es; lange wird es nicht mehr dauern, bis er kommt.
Vielleicht bleibe ich doch lieber im Flur.
Ich betrachte mir das Zeug an der Wand. Es ist zum größten Teil furchtbar, wie ich finde. Hoffentlich ist das nicht sein Geschmack, sondern ihrer.
Sieben Minuten vor halb sieben höre ich seinen Wagen draußen. Was jetzt? Aufspringen, ihm entgegengehen? Oder schnell zurück ins Wohnzimmer, mich elegant auf eines der zahlreichen Sofas drapieren und ihm ganz im Grande Dame Stil gelangweilt entgegenschreiten, wenn er den Raum betritt?
Noch bevor ich die Überlegung fertig habe, bin ich schon auf der Außentreppe, laufe über den dämlichen, ekelhaften Kies und fange ihn ab, als er gerade die Autotür schließt. Aus dem Übermut seiner Zähnen auf meiner Schulter, die mir einen Schauer nach dem anderen auf geradem Wege bis zu den Fußsohlen jagen, mit gewissen Zwischenstopps, versuche ich auf seine Stimmung zu schließen. Er ist gar nicht besorgt wegen Deinar. Oder er spielt mir etwas vor.
Bevor wir aneinandergelehnt ins Haus gehen, hält er mich einen Augenblick lang von sich ab und mustert meinen veränderten Aufzug. Sein Mund sagt nichts, aber seine Augen tun es. Es gefällt ihm. Und ich habe etwas gelernt. Ich fürchte, mein Kleiderschrank wird eine kleine Revolution erleben.
Das Abendessen sind vorbereitete Teller, die mit Plastikfolie umhüllt auf dem Tisch stehen. Selbst aussuchen darf man abends wohl nicht mehr. Die Hoffmann ist gerade dabei, noch einmal über die längst blitzsaubere Arbeitsfläche zu wischen. „Entschuldigen Sie, Frau Hoffmann – ich habe mich beeilt, aber es ging nicht früher. Tut mir Leid, dass Ihr Feierabend sich schon wieder verzögert hat.“ Aha – um sechs geht sie also normalerweise. Fragt sich nur noch wohin. Ob sie hier wohnt? „Das bin ich gewohnt,“ entgegnet sie brummig. „Kommt mit auf die Überstundenrechnung. Und wenn noch etwas ist, Sie wissen ja, wo Sie mich finden können.“
„Was magst du trinken?“ fragt er mich, als sie verschwunden ist. Ich höre die Haustür; also wohnt sie doch nicht mit im Haus. In dem wir jetzt ganz allein sind.
Was mag ich trinken? „Mir wäre ganz profan nach einem Bier. Aber ersten weiß ich nicht, ob es welches gibt, und zweitens bin ich mir nicht sicher, ob Alkohol das Richtige ist.“ „Was das Dahaben betrifft – wenn du mit meiner Sorte zufrieden bist, lässt sich das machen.“ „Das kommt darauf an, welche es ist,“ antworte ich. „Das klingt ja ziemlich wählerisch … Womit darf ich dir denn beim nächsten Mal aufwarten, wenn es diesmal nicht passt?“
Oje – was für ein Gesprächsthema. „Das klingt ja fast, als müsste ich Bierkennerin sein. Nein, ich mag nur gerne dunkles.“ Er grinst breit, geht an den Kühlschrank und zieht zwei Alt daraus hervor. „Das trifft sich doch, oder? Wenn dir die Marke egal ist, die Sorte haben wir auf jeden Fall gemeinsam.“
Was bloß mit ihm los ist? Er benimmt sich wie ein kleiner Junge beim Schuleschwänzen. Ich dachte immer, Doms träten in der Regel streng auf, bestimmend und unbeugsam. So wie Oberlehrer.
Wir verziehen uns mit unserer Beute in sein Reich.
„Nun erzähl schon,“ dränge ich. „Erstens, wie war es, ist alles gut gelaufen, und zweitens, wie schlimm ist das mit Deinar?“
Er lässt sich zurücksinken, zieht mich mit sich. Erst mein Aufschrei erinnert ihn an das, was ich zwischendurch auch beinahe vergessen hätte. „Oh Gott, entschuldige, Anne!“ Ich schüttele den Kopf. „Ist überhaupt nicht schlimm. Außerdem ist es eine gute Übung, wenn ich mich daran erinnere, was du heute Morgen gesagt hast.“ Er begegnet der Herausforderung in meinen Augen. „Du scheinst ungeduldig zu sein,“ stellt er fest. „Dann werde ich dich zu meinem Bedauern noch ein wenig warten lassen müssen.“
„Du bist gemein!“
Schneller als ich reagieren kann hat er meine Arme gepackt und mich mit dem Gewicht seines Körpers hilflos zwischen ihm und der Sofalehne eingeklemmt. „Was ist denn das für ein Ton, Anne?“ Unwillkürlich weiche ich dem flammenden Blau seiner Augen aus. Der dumpfe Schmerz auf meinem Rücken verwandelt sich in einen schneidenden. Wie kleine Flämmchen laufen elektrische Impulse durch meine Adern, eine warme Flut füllt meine Kehle, meinen Brustkorb, meinen Bauch. „Bitte verzeihen Sie mir,“ flüstere ich. Sein Lippen nähern sich meinem Hals, und ich weiß nicht, wird er mich küssen, oder wird er zubeißen.
Ich bin in der Gewalt einer Raubkatze.
Und ich würde jedem, der mich aus dieser Gefahr retten wollte, den Schädel einschlagen.
***
In mir streitet eine erstickende, eisige Angst, er könnte wirklich böse auf mich sein, mit überschäumender Freude. Ich genieße seine Kraft, auch wenn sie mir Schmerz bereitet. Und ich hebe den Kopf, ein wenig furchtsam, damit er freien Zugang zu meinem Hals hat. Irgendein Urtrieb muss das sein, die primitive, prickelnde, zitternde Aufregung auf dieser Schwelle, auf der ich mich befinde. Der Zustand, wenn Macht ausgetestet worden ist, kurz bevor man anerkennend, dankbar nicht nur sein Haupt neigt, sondern sein ganzes Sein vor dem, der die größere besitzt.
Seine Zunge umspielt das Halsband. Sein Halsband, dessen Anwesenheit mir die ganze Zeit über bewusst war und ist. Sein Zeichen, das nur er wieder entfernen kann, denn er hat die beiden Schlüssel dazu. Namenlose Verzweiflung packt mich bei dem Gedanken daran, er könne dies eines Tages tun wollen, es mir abnehmen.
Und dann spüre ich doch seine Zähne auf meiner Schulter. Die Nervenbahnen winden sich in Schock wie bei Hitze oder Kälte und melden ihren Aufschrei an alle ihre Kollegen.
Ebenso abrupt, wie er sich auf mich gestürzt hat, lässt er mich wieder los, steht auf. Der Schock verwandelt sich in lauten Protest. „Meine liebe Anne – ich mag dein Kleid sehr; aber momentan stört es mich ein wenig.“
Ich will, dass er mich wieder berührt, beeile mich, seinem Wunsch nachzukommen, in der Hoffnung, es wird ihn eben dazu bewegen. Unbeholfen raffe ich mich auf, befreie mich aus dem Stoff, zeige den darunter. Als ich das Kleid weglegen will, auf die mittlerweile ordentlich neben dem Sofa gestapelten Kartons von heute Morgen legen, schließen seine Arme sich um meine Taille, pressen meinen Rücken gegen seinen Bauch. Seine Hände fassen nach meinen Brüsten, umfassen sie schmerzhaft hart. Raubtierkrallen kratzen an dem seidigen Material. „Auch ein sehr schönes Teil, Anne, aber es stört mich ebenfalls.“
Schon streifen seine Finger die dünnen Träger herunter, schälen mich aus dem Body, betasten sanft den Verband.
Nicht sanft, nein, nicht sanft! Fast rufe ich es laut, so intensiv ist der Wunsch. Aber Raubkatzen sind nicht nur stark, sie spielen auch.
„Warte hier.“
Wohin geht er? Er kann mich doch jetzt nicht allein lassen! Nackt stehe ich mitten im Zimmer, schütze unwillkürlich meine Blöße mit den verschränkten Armen.
Ich höre seine Schritte sich entfernen, eine Tür geht, eine Schublade, seine Schritte kommen zurück. Er hat sein Jackett ausgezogen und seine Krawatte, trägt etwas. Eine Maske. Er legt sie mir an, streicht mit den Fingerspitzen über meine Augen, die nun nichts mehr sehen.
„Ich bin gleich zurück,“ sagt er, und erneut höre ich ihn weggehen. Die Schublade von vorhin wird geschlossen. Aber ich höre keine Schritte. Wo bleibt er nur? Plötzlich ist seine Stimme ganz nah, aber ich habe ihn nicht hereinkommen hören. Er muss seine Schuhe ausgezogen haben. „Streck deine Arme aus.“ Ich tue es, fühle mich hilflos, weil ich ihn nicht sehen kann, auf meine Ohren angewiesen bin, um ihn wahrzunehmen. Etwas schließt sich um meine Handgelenke, erst um das linke, dann das rechte, wird zugezogen, Metall klirrt leise. Meine Hände sind aneinander gefesselt. „Wir werden jetzt in einen anderen Raum gehen. Meine Stimme wird dich führen. Dreh dich um. Weiter, nein, nicht soviel, ein wenig zurück. Halt.“
Nein, nein, ich will das nicht! Ich will sehen können! Wie soll ich den Weg finden, wenn ich nichts habe als seine gestaltlosen Worte, um mich daran zu orientieren? Ich hasse es, aller eigenen Mittel beraubt zu sein!
Wahrscheinlich ist genau das der Grund dafür, warum er das tut.
„Gehe nach vorne, nur drei, vier Schritte. Halt.“ Eine Luftbewegung auf meiner nackten Haut zeigt mir, er ist an mir vorbeigegangen. „Die Tür ist offen. Jetzt weiter geradeaus, immer weiter. Nach links, nur wenige Schritte. Wieder drehen, noch etwas mehr. Und wieder nach vorne. Ja, so ist es gut. Stopp.“
Seine Hände fassen meine Arme. „Vorsicht, es kommt eine Treppe nach oben. Sie ist sehr schmal und steil. Versuche es, ich halte dich.“ Mein rechter Fuß in den leichten Ballerinas tastet, sucht, findet. Auf der dritten Stufe lässt er mich los. „Es sind noch ein paar Stufen. Weiter, Anne, weiter. Noch eine, und dann noch ein Stückchen.“
Ich will, dass er neben mir ist, dass er mich berührt! Und dass ich frei bin von dem, was mir die Fähigkeiten meiner Augen nimmt und das ungehemmte Ausbalancieren durch meine Arne. „Einen Moment.“ Ich bleibe stehen. Ein Schlüssel gleitet in ein Schloss, die Verriegelung klackt. „Du kannst weitergehen. Kleine Schritte, Anne – es ist nicht mehr weit. Wir sind bald da. Weiter, ja, hervorragend. Noch einen Schritt. Nimm die Arme nach vorne, ganz langsam.“ Meine Hände stoßen gegen Holz, massives Holz. Wo sind wir? Ich erforsche das Hindernis. Vielleicht 20 Zentimeter dick; ein Balken? Der Dachboden, sind wir auf dem Dachboden?
„Nimm die Arme nach oben.“ Ich tue es. Die Spannung zieht an den Wunden unter dem Verband. Er tritt neben mich, sein Hemdstoff reibt sich an meinem Arm. Er greift nach den Handfesseln. Es muss ein Haken sein, der beide verbindet, und den er entfernt. Der linke Arm geht ganz nach links, und auch dort ist Holz. Ein Querbalken. Ein Kreuz. Wieder das leise Metallgeräusch, und dann kann ich nur noch die rechte Seite bewegen. Solange, bis auch sie arretiert ist.
Ich höre ihn lachen, und dann presst sein Körper gegen meinen, seine Arme folgen der Kurve der meinen in Kreuzform, schließen sich um meine hilflos hängenden Hände. „Sehr gut, Anne, ich danke dir. Ich weiß, das war eine schwere Übung für dich.“ Ach ja? Woher weiß er das? Nun, natürlich weiß er das; für ihn wäre es genau das, eine schwere Übung, das Sehen, einen vollständigen Sinn abgeben und allein dem des anderen vertrauen – also ist es das auch für mich, da sind wir uns zu ähnlich.
Meine Aufregung, meine Erregung sind verschwunden. Ein ängstliches Abwarten ist an ihre Stelle getreten. Ich sehne mich nach dem direkten Körperkontakt der Situation auf dem Sofa zurück. Er wird mir wieder wehtun, ich weiß es; aber anders als vorhin. Warum kann er das nicht so, dass ich ihn dabei spüre?
Seine Fingernägel gleiten meine Arme entlang, über die Schultern, die Seite hinunter, während er selbst ein wenig zurücktritt. Erneut spricht er; anders, nicht mehr sanft, sondern hart, fast kalt. „Ich werde dich schlagen. Und ich möchte, dass du es aushältst. Es wird dir nicht gefallen, aber ich will es.“
Nichts ist mehr da von meiner liebevollen Verbeugung vor seiner Kraft; ich habe nur noch Angst.
Ja – ich wollte mit einer Raubkatze spielen, aber nach meinen Regeln. Und genau das ist es, was er nicht zulassen wird.
Seine Finger kneten meinen Hintern, drücken meine Vorderseite peinvoll gegen die Kanten von glattem Holz.
Dann trifft mich der erste Schlag. Es ist nicht schlimm; eher ein Streicheln. Ein ziehendes Prickeln der überraschten Haut, die erst reagiert, als die Ursache schon vorüber ist. Eine kurze Pause, und es folgen weitere. Viele, kleine Hiebe. Es tut nicht weh. Was es wohl ist, das er einsetzt? Es fühlt sich an wie eine Weidenrute. Jetzt tanzt sie, und die versetzte Reaktion sorgt für ein Blitzgewitter von züngelndem Kribbeln. Langsam legt sich ein schweres Gefühl darunter, eine Mischung aus Erleichterung über die immer wieder eintretende Entspannung und Unbehagen über die andauernde Störung.
Nun streichelt mich die Rute. Ich erschauere. Seine Fingerspitzen, seine Fingernägel folgen. Die Intensität der Empfindung ist kaum auszuhalten. Die gereizte Haut klagt.
Der Tanz geht weiter. Meine Muskeln beginnen zu zucken; ich kann nicht mehr stillhalten. Mein ganzer Hintern brennt, und ich kann nicht mehr unterscheiden, ist es ein angenehmes Gefühl, oder ein unangenehmes. So schnell folgen die leichten Schläge, es gibt keine Entspannung mehr, nur noch dieses entsetzlich intensive Ziehen, das sich mehr und mehr verstärkt.
Endlich doch wieder eine Pause. Und dann ein echter Schmerz; schneidend, scharf. Ein zweiter. Das ist jetzt etwas anderes. Eine Reitgerte vielleicht. Es zieht, und dann folgt das Brennen, wieder und wieder. Schnell, dann wieder langsam. Unaufhörlich, unerbittlich.
Mein ganzes Denken konzentriert sich auf meinen Po, als existiere der Rest meines Körpers gar nicht mehr. Mein Zeitgefühl geht zum Teufel.
Eine Weile schweigt die Gerte, fest umschließen seine Hände die Muskeln, kneten, massieren. Wie eine Welle ist da plötzlich Wohlbehagen, breitet sich über die zitternden Hautzellen. Seine Fingerspitzen wandern zwischen meine Beine, und zu meinem eigenen Erstaunen kann ich es fühlen, wie warm und feucht die zerklüftete Landschaft ist, die sie erforschen. Der Druck der Erregung begegnet irgendwo in meinem Unterleib dem Erschauern des Schmerzes. Heiß prallt beides aufeinander, sendet Strahlen aus, die meinen Rücken hinauflaufen bis in Schultern, Hals und Kopf, und meine Beine hinunter bis zu den Fußsohlen.
„Und nun, Anne, werde ich dich zum Schreien bringen.“
Ich beiße die Zähne zusammen und nehme mir fest vor, keinen Laut von mir zu geben, was auch immer er tut. Nie, nie wird er so zuschlagen, wie Deinar das getan hat. Wäre doch gelacht, wenn ich das nicht stumm hinter mich bringen könnte.
Schon der erste Schlag zeigt mir, da habe ich mich gewaltig überschätzt. Es ist nur einer – und doch trifft er überall. Eine Peitsche muss es sein; und keineswegs eine aus Wildleder. Es beißt, es brennt. Ein zweites Zischen, geräuschvoll ziehe ich die Luft ein; es ist noch schlimmer als beim ersten Mal. Erbarmungslos foltern die vielen Stränge die Haut, die empfindlich ist wie eine verheilende Wunde nach der Vorbehandlung, ein Hieb jagt den nächsten. Es gibt keinen Aufschub.
Mein ganzes Denken ballt sich zusammen auf eine kleine Kugel, um dem Schmerz zu entkommen, der immer größer wird, immer mächtiger.
Er wird sich fortsetzen, bis ich schreie. Das macht mich nur umso entschlossener, obwohl es mit meiner Stummheit längst vorbei ist. Ich keuche, ich stöhne, ringe nach Luft. Aber nein, ich werde nicht schreien. So stark kann nichts sein, das er mir antun würde.
Nun lässt es nach; eine Pause. Seine Fingernägel malen Zeichen auf die misshandelte Haut, die sich eingraben, sich hindurchbrennen bis auf die Knochen. „Du bist sehr entschlossen,“ sagt er, und ich kann hören, dass er lächelt. Er ist sich seines Siegs ebenso sicher wie ich mir des meinen.
Ich bewege mich, entspanne mich ein wenig in der Erholung. Meine verkrampften Arme und Beine genießen den Stellungswechsel, und mein Sein wagt sich aus der kleinen Kugel heraus, sieht sich vorsichtig um.
Unvermittelt, ohne jede Vorwarnung, schlägt er erneut zu. Hart. Mein Denken stürzt sich auf die kleine Kugel, will zurückkehren in deren Schutz, aber es ist zu spät, zu schnell folgt der nächste Hieb, der nächste. „Ich will, dass du schreist,“ sagt er, und jedes Wort wird begleitet von neuem Schmerz.
Ich kann nicht mehr; ich will, dass es aufhört.
Auf einmal erobert sich die Peitsche neues Territorium, meine Oberschenkel. Nur mühsam kann ich einen Laut unterdrücken. Was sich bisher auf meinen Hintern beschränkte, scheint nun überall zu sein. Auf meinen Beinen, auf meinem Rücken.
Es ist schwer, aber ich halte es aus. Nein, mein Lieber – du bist nicht brutal genug, mich zum Schreien zu bringen. Ein kleines Triumphgefühl lässt mich lächeln.
Wieder eine Pause. Seine Hand ist auf meinem Rücken. Sie fasst etwas, ein leises Reißen. Er hat meinen Verband entfernt! Meine Knie geben nach, ich sacke zusammen. Sanfte Fingerspitzen streifen über die Verletzung, die sich verschorft anfühlt. „Möchtest du, dass ich aufhöre?“ Leise klingt es; gefährlich, drohend.
Als ob ich einen Machtkampf so leicht aufgäbe. „Nein,“ stoße ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
Plötzlich beißt etwas zu an den Stellen, die die Erinnerung an die Drachenzähne noch in sich tragen. Wie Deinar schlägt Mondheim kreuzweise. Rechts, links, rechts, wieder links. Er zieht die Peitsche nicht über die Haut, aber dennoch weckt er das Feuer, das aus dem Halbschlaf erwacht, sich rasch erholt, sich mit einem Aufatmen erhebt und sich auf mich stürzt, über mir zusammenschlägt. Ich brenne. Die kleine sichere Kugel um meine Gedanken zerspringt in rotem Glühen. Es gibt kein Entkommen. Der Schmerz hat gewonnen, und er lacht darüber, jagt die letzten Fetzen meiner Entschiedenheit vor sich her, spielt mit ihnen. Er ist stark, und er wird immer stärker.
Rechts, links. Ein Schluchzen steigt in meiner Kehle auf. Einen Moment lang scheint Deinar hinter mir zu stehen; die Wut in seinem Gesicht, die ich nicht gesehen, nur gespürt habe, schlägt noch fester zu als das gefühllose Leder. Um mich sind nur Hass und Kälte.
Es endet, und ich stürze. Aber Hände halten mich. Mondheims Hände. „Ich bin stolz auf dich, Anne. Du bist stark. Und – Anne, ich liebe dich.“
Viel zu schnell entzieht er sich erneut. Noch einmal links, und noch einmal rechts. Ich spüre es kaum, im Aufruhr der Überraschung über seine Worte, bis beim dritten Schlag der Schmerz mit aller Macht wiederkehrt und über mir zusammenschlägt; die Erinnerung an Deinar überwältigt und auslöscht, an seinen Hass, seine Kälte. Hitze steigt auf, ein Echo hallt in meinem Kopf, in meinem Bauch, in jeder Zelle meines Körpers. Er liebt mich. Mondheim liebt mich. Die Worte verbinden, verbünden sich mit der heißen Pein auf meinem Rücken. Es gibt nichts mehr außer diesem glühenden Hitzeball, in dem ich vergehe.
Ich schreie.
***