Sinnliche Magie, Teil 2

15. Mai 2010

So naiv, so ignorant kann er gar nicht sein, nicht zu bemerken, was ich für ihn empfinde! Manchmal kann ich ihm schon nicht mehr in die Augen sehen; mir ist, als müsse er doch ganz genau wissen, was ich denke, und als lasse er mich mit geheimem Sadismus immer tiefer hineinrennen in diese Verrücktheit nach ihm, für mich so schmerzhaft wie das, was ich ihm voller Liebe antun möchte. Das ist so, wie wenn man in der Nacht von jemandem geträumt hat – irgendwie glaubt man doch immer, der andere müsse den Traum kennen.
Es ist Zeit, einen Schritt zu tun. Diese Hölle der Passivität, das ist nichts für mich. Und wenn er nicht will, übernehme ich das eben.

Ist ja ohnehin meine Sache als der dominante Partner, die Initiative zu ergreifen. Pech nur, dass dazu immer zwei gehören. Der, der dirigiert – und der, der sich dirigieren lässt. Bevor nicht klar ist, dass wir eine Beziehung haben werden, und zwar eine, in der SM eine Rolle spielt, habe ich nicht die geringsten Rechte. Und lebe ständig in der Gefahr, dass ein Kavalier alter Schule wie er mich nur strafend ansieht, werde ich zu frech, zu fordernd, zu aktiv.
Trotzdem – was soll mir schon passieren, außer einer Ablehnung? Ich werde ihn einfach zum Essen einladen. Gleich morgen. Ganz harmlos, für die Mittagspause. Das fällt nicht so sehr auf. Er gehört zwar nicht zu denen, die eine lustige Mittagsrunde per Stempel „Arbeitsessen“ zum Überstundenpotential erklären; fast nie sieht man ihn mit einem Kollegen oder einer Kollegin. Weiß der Himmel, wo er isst. Und ob überhaupt. Er verschwindet um zwölf, und um halb zwei ist er zurück. So pünktlich, man könnte seine Uhr danach stellen – aber fast immer allein.
Das werde ich ändern.
Schon eine Stunde später kann ich mich über den Erfolg freuen. Er hat zugestimmt. So ruhig und selbstverständlich, als sei überhaupt nichts dabei. Na, und ob etwas dabei ist – das wird er schon sehen …
Das denke ich vorher. Am Nachmittag darauf bin ich klüger. Wenn jemals ein Essen den Zusatz Arbeit- davor verdient hat, dann dieses. Natürlich, er war formvollendet höflich, hat mir aus dem Mantel und in diesen hinein geholfen, mir den Stuhl zurechtgerückt, mich nach meinen Wünschen befragt – streng essensbezogen natürlich -, für mich bestellt, und bezahlt. Klasse. Aber nicht ein privates Wort ist von ihm gefallen. Elegant hat er meine sämtlichen Anstrengungen abgewehrt, persönlich zu werden.
Langsam nähert mein Zustand sich einer Art Delirium. Das macht mich unvorsichtig. Meiner ersten Einladung folgt eine zweite. Eine noch kessere. Zur Party an diesem Wochenende, die ich für das Magazin kommentieren soll. Eine SM-Party natürlich.
Er zieht leicht die Augenbrauen über den schönen grauen Augen hoch – das erstaunt nun wohl doch selbst unseren unberührbaren Eiszapfen -, aber seine Zustimmung erfolgt in ebenso wohlgesetzten, gestelzten Worten wie beim Mittagessen.
Aber ich kann mir sicher sein – wenn er jetzt nicht weiß, dass ich ihn haben will, dann liegt seine Intuition im Winterschlaf. Der Freitagabend nähert sich, und ich bin schon am Morgen ein Nervenbündel. Nicht, dass die Nacht besser gewesen wäre.
Diese Party, das ist meine Chance. Ich muss es schaffen, die Stimmung dort auszunutzen. Es ist keine Spieleparty; Gott bewahre! Nein, bei den Veranstaltern geht es immer ruhig, gesittet, elegant und kunstvoll zu. Aber ungeheuer reizvoll … Wenn ich es dort nicht schaffe, ihn zu verführen, dann kann ich es aufgeben. Am besten auch gleich mich nach einem anderen Job umsehen.
Die Sekunden ticken herunter wie zäher Brei. Fünfmal ziehe ich mich um, dreimal schminke ich mich neu, und meine Haare verändere ich alles vier Minuten. Mein Kostüm ist perfekt – ein Smoking aus schwarzem, satinähnlichen Stoff, und darunter, unter dem Jackett, ein weißes Etwas, kaum breiter als ein Stirnband, ebenfalls glänzend, für die verräterischsten Stellen. Dazu eine rote Rose am Revers. Stiefelletten mit hohem Absatz.
Wie eine mechanische Puppe renne ich in meiner Wohnung herum. Er wird mich abholen. Wenn es doch bloß schon so weit wäre; wenn ich es doch bloß schon hinter mir hätte! Wie bin ich nur auf diese Schnapsidee gekommen … Es will und will nicht halb acht werden.
Aber dann auf einmal ist es doch so weit, ganz plötzlich, und ich habe nicht einmal mehr eine Minute, um schnell ein hundertunzehntes Mal aufs Klo zu marschieren.
Es klingelt.
Ich öffne die Tür.
Draußen steht er; ganz in Leder. In schwarzem Leder natürlich.
Doch bevor noch mein Herz einen wilden Freudenhüpfer machen kann, entdecke ich die schmale Kette in seiner Hand – und die schlanke Figur der korsettierten Dame, an deren Halsband sie befestigt ist.


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